Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Eltern gewohnt war, gut zuhörte, Kontakt zu Schicksalsgenossen herstellte, Rat erteilte und handfeste Tipps: Es gab dort Fachliteratur, Listen mit Anlaufstellen, Aufklärung über die Rechte, die man einklagen und durchsetzen konnte, handfeste Tipps für den Umgang mit Behörden. Als wir später dorthin gingen, lichtete sich ein gutes Stück des Nebels, in dem wir uns bewegt hatten, und es lag ein Weg vor uns.
Dem Leiter dieses Wunderortes also stellte sie mich vor mit Worten, die ich bis heute nicht vergessen habe, weil sie in aller Schlichtheit meine Position umrissen und ihr zugleich jedes Recht verliehen: »Herr Ursel, ich bringe Ihnen eine Mutter.«
Mein drittes »Erweckungserlebnis« hatte ich beim Schluss der Veranstaltung. Schon zuvor war mir eine Gruppe Männer aufgefallen, Jugendliche und Erwachsene, die ein wenig abseits des Trubels saÃen. Sie wirkten rein äuÃerlich betrachtet seltsam, teils hager, teils übergewichtig, irgendwie verschoben in ihren Gesichtszügen, verzerrt wie Gestalten in einem Spiegelkabinett. Bisweilen hörte man aus ihren Reihen plötzlich ausgestoÃene laute Worte oder ein manisches Klatschen. Manchmal wurde einer von ihnen nach drauÃen gebracht, weil er unruhig wurde. Jetzt wurden sie auf das Podium geführt.
Dort saÃen sie nebeneinander, jeder mit einem Begleiter, der ins Publikum lächelte, das sie selbst mit keinem Blick wahrzunehmen schienen. Ihre Augen wanderten im Irgendwo umher, während sie sich vor- und zurückwiegten oder mit den Händen plötzliche, seltsame Bewegungen ausführten. Einer, der auf den ersten Blick völlig normal wirkte, hob immer wieder ruckartig die Hände, um rasch viermal hintereinander zu klatschen. Ein anderer stieà wiederholt kurze Sequenzen von »ttttts« aus, einer wischte sich übers Gesicht und wandte sich dann nach links. Ticks, um mit der eigenen Nervosität fertig zu werden.
Frau Wolf, die Leiterin der Tagesstätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg, die ich später während meiner Fortbildung mit Frau Kaarmann noch besser kennenlernen sollte, erklärte, dass es sich bei diesen Männern um Autisten handelte, die in ihrer Einrichtung die sogenannte Gestützte Kommunikation erlernt hatten. Die Betroffenen haben dabei eine Buchstabentafel aus Holz oder eine Tastatur vor sich, die speziell geformt ist, um einen möglichst guten Halt zu bieten, und die zusätzliche Felder etwa für »Ja«, »Nein«, »Fehler« und »weiter« anbietet. Während sie mit dem Finger auf einzelne Buchstaben tippen, werden sie am Handgelenk, am Ellenbogen oder an der Schulter von einer zweiten Person gestützt.
Dieser leichte Körperkontakt ist wichtig, um die gestörte Selbstwahrnehmung und Motorik der Autisten auszugleichen, auch um psychischen Halt zu geben, die Sinne wach und den Prozess am Laufen zu halten. Es darf nur ein leichter Gegendruck ausgeübt, aber nicht gezielt geführt werden. Was nicht einfach ist und die ganze Methode lange in Verruf gebracht hat. Gestützte Kommunikation, die Ende der siebziger Jahre zunächst für Patienten mit einer Zerebralparese entwickelt und später auch bei Autisten angewandt wurde, hat Jahre des Kampfes um Anerkennung hinter sich. Sie hat diesen Kampf gewonnen, aber es hat gedauert. Auch weil ihre Ergebnisse nicht einfach zu überprüfen sind. Die Beziehung zwischen Stützer und Autist hat eine emotionale, sehr persönliche Komponente. Stützen ist kein rein mechanischer Vorgang; es gibt viele Autisten, die mit einem Stützer ganze Aufsätze schreiben, mit einem anderen dagegen kein Wort.
All das, was ich inzwischen mit meinem Sohn selbst erlebe, erfuhr ich damals im Schnellverfahren: Nach einem kurzen einleitenden Vortrag wurde das Publikum aufgefordert, den Autisten auf der Bühne Fragen zu stellen, die diese dann per Gestützter Kommunikation beantworten würden.
Jemand fragte. Dann kam eine Phase des Schweigens, bis die Männer dort oben ihre Hände anhoben und gestützt von den Begleitern mit ihren Fingern auf die Buchstabentafeln tippten. Es pochte und klopfte, laut, in einem schnellen, regelmäÃigen, trommelnden, ganz und gar mechanischen Rhythmus. Sonst war nichts zu hören. Es war still wie in einer Kirche, alle lauschten ebenso gespannt wie andächtig.
Die Betreuer schrieben mit der freien Hand den Text mit. Als das letzte
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