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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Glieder nur auf starke Reize reagieren. Ich begann zu begreifen, warum er immer beim Einschlafen seine Hände unter mich schob, was unglaublich nervig war, da er es wieder und wieder tat und das Gebohre bei langen Fingernägeln auch schmerzhaft war. Ich nehme an, er verlor gerade an der Schwelle zum Schlaf und im Dunkeln das Gefühl für seine Körpergrenzen. Schwere Decken, las ich, helfen da, notfalls beschwert mit zusätzlichen Gewichten; es gab sogar Sandjacken und Polsterungen, die den Körper überall berühren, um Autisten das Einschlafen leichter zu machen. Es gab so viel zu tun.
    Autisten, stand in den Büchern, haben sensorische Störungen, ihre Sinne arbeiten anders, reagieren gestört oder zumindest nicht zuverlässig. Es gab Autisten, die berichteten, dass die Welt ihnen in einem Moment heil erschien, im nächsten schon konnte sie sich verfärben oder bewegen, der Boden sich wölben oder Dinge sich zusammenziehen, sich scheinbar annähern, entfernen oder erschreckend vergrößern. Ich dachte an Simon, der manchmal beim Spazierengehen scheinbar grundlos stehen blieb, auf den Boden starrte und schrie. Was sah er in diesem Augenblick? Tat sich der Untergrund vor ihm auf? Bebte für ihn die Erde? Spürte er mit einem Mal seine Beine nicht mehr?
    Simon roch auch an allem, offenbar war sein Geruchssinn wichtiger als bei uns anderen Menschen. Er nahm, obwohl sieben Jahre alt, noch immer alles in den Mund. Einschließlich der Finger anderer Leute. Bis heute schnuppert er an neuen Bekannten. Wenn man nicht aufpasst, leckt er ihnen auch schon mal den Schweiß von der Stirn. Nur so, um zu kosten. Einmal, im Wartezimmer der Logopädin, ging er zu einem Mann, der stark vorgeneigt dasaß, und küsste ihn auf die Stirnglatze. Der reagierte nett: »He, so gut kennen wir uns noch nicht.«
    Am eindeutigsten war, dass Simons Geschmackssinn unterentwickelt sein musste. Er isst gerne Senf blank, Salz teelöffelweise und liebt scharfe Speisen. Lange nagte er an Seifen. Und er hätte kein Problem damit, Kot zu probieren; zum Glück konnte ich erste Versuche in dieser Richtung erfolgreich abblocken. Ich hatte an die Mutter denken müssen, die in ihrem Buch beschrieben hatte, wie ihr autistischer Sohn die Heizkörper mit seinem Stuhlgang beschmierte, was unglaublich gestunken haben muss, und war daher in meiner Ablehnung ausnahmsweise sehr entschlossen. Entweder hat Simon das bemerkt und honoriert, oder er war eben doch nicht so kotinteressiert. Autisten sind verschieden.
    Nicht alles, was ich las, war hilfreich. Die neurologischen Bücher zum Beispiel erklärten im Grunde mit viel wissenschaftlichem Aufwand nur, wie wenig man über Autismus wusste. Eine genetische Erkrankung, das war sicher. Man hatte aber bislang weder das Gen oder die Gene gefunden, die für den Defekt verantwortlich waren, noch hatte man – bis vor kurzem, wenn ich den neuesten Nachrichten aus England glauben darf – ein einheitliches Störungsbild im Gehirn identifiziert, so dass man aufgrund einer Computertomographie hätte sagen können: »Aha, sehen Sie das da und das und das? In der Summe eindeutig Autismus.« Man kann Autismus auch nicht wie andere Erbkrankheiten durch einen Gentest erkennen.
    Die Erklärungsbrocken, die ich in den wissenschaftlichen Arbeiten fand, gab ich mit Vorliebe an andere Menschen weiter, ich redete von Extrapyramidalbahnen, Synapsen und Reparaturprozessen an defekten Genen, damit die Leute endlich mal etwas anderes sahen als ein ungezogenes Kind. Nämlich ein hochinteressantes neurologisches Forschungsproblem. Das tat der Umwelt ganz gut.
    Die Ratgeber waren schon besser. Sie boten konkrete Handlungsanweisungen. Wir begannen, gebremst durch Müdigkeit, Erschöpfung und meine wesenseigene Schlampigkeit, aber immerhin, unseren Alltag besser zu strukturieren: auf Bilder als Mittel der Verständigung zu setzen, immergleiche Orte für bestimmte Dinge zu definieren, gleichförmige Abläufe zu schaffen. Im Badezimmer hingen jetzt laminierte Bilder, die zeigten, in welcher Folge man die »abendlichen Pflichten« zu erfüllen hatte: Zähne putzen, Hände waschen, Schlafanzug anziehen. Der komplexe Vorgang des Händewaschens wurde in einer Geschichte mit sieben Bildern erklärt: Wasser an, Hände nass, Seife nehmen, Hände reiben, abspülen, Wasser aus, abtrocknen. An allen Türchen und Schubladen klebte ein

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