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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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einem gewissen Grad sogar erklärbar. Die Echolalien Simons zum Beispiel, also sein krankhafter Zwang, Sätze oder Wörter aus sämtlichen Liedern, Büchern und Filmen zu wiederholen, war ganz typisch für Autisten. Oder seine »Werkzeugsätze«, diese nach Pi mal Daumen benutzten Versatzredewendungen, mit denen er sich zuzeiten behalf. Auch die Unsicherheit beim »Ja« und »Nein« wurde von der Vortragenden beschrieben. Fragte man Simon etwas, kam oft keine Antwort. (Oder ein bedeutungsloses »Ja«, weil ihm das am bequemsten erschien, da ein »Nein« seiner Erfahrung nach Widerstand hervorrief: Die Erwachsenen redeten dann auf einen ein und wollten etwas.) Fragte man Simon »Ja oder Nein?«, bekam man ein Nein, aber nur, weil es das letztgenannte Wort war und er ein Echo produzierte. Drehte man die Sache um und fragte »Nein oder Ja?«, wurde es meist ein Ja. Man konnte meinen, dass er nicht wusste, was er wollte. Aber es war nur die verdammte Echofunktion. Was er wollte, wusste er genau, nur sagen konnte er es nicht.
    Wie überhaupt, so lernte ich, dass die Gedanken klar waren, aber die Wörter auf dem Weg vom Hirn zu den Stimmbändern oft einer Verschaltung zum Opfer fielen. Heraus kommt dann Nonsens: etwas nur ähnlich Klingendes oder etwas inhaltlich Verwandtes aus demselben Paradigma, also »rechts« statt »links« oder »geradeaus«, was alles immerhin zur Gruppe der Richtungsanzeigen gehört. Oder er sagt »Vater« statt »Mutter« oder »Bruder« statt »Onkel«, alles Verwandtschaftsbezeichnungen. Er greift also in die richtige Schublade, aber was er genau herausholt, kann er nicht kontrollieren.
    Ich nahm alles begierig auf, ständig öffneten sich Türen. Mit einem Mal begriff ich auch einen Vorfall, der einige Wochen zuvor beinahe zu einem Unfall geführt hätte. Simon saß hinten im Auto und verlangte: »Ich will die Mickymaus.« Mickymaus? dachte ich und überlegte, während ich uns, unter seinem stetig wiederholten Begehren, durch den Innenstadtverkehr zur nächsten Therapiestunde chauffierte. Meint er das Video, das er gestern gesehen hat? Oder eines der Heftchen seines Bruders? Oder die Figur in dem Playstation-Spiel? Gab es im Kindergarten was mit Mickymaus? Sinnlos zu fragen. Er verlangte, ich fuhr und versuchte nebenbei, ihm zu erklären, warum derzeit weder Videos noch Bücher noch sonst etwas zur Verfügung standen. Simon blieb stur und wurde laut. Er versuchte sich abzuschnallen. Ich versuchte, ihn mit Befehlen im Zaum zu halten, wir wurden beide laut; ich verriss das Steuer, mir brach der Schweiß aus. Bis ich umdachte. Vergiss die Mickymaus, sagte ich mir, achte auf die Grammatik. Er will etwas. Wir sitzen im Auto, das beschränkt unseren Radius. Was könnte das Kind hier und jetzt wollen? Mein Blick fiel auf die Packung mit Keksen auf dem Armaturenbrett. Ich reichte sie nach hinten, das war die Lösung. Friede kehrte ein. Wir kamen sicher an. Wo die Verbindung von Micky zu den Keksen lag, ob es irgendeine Lautassoziation war oder weiß der Teufel, ich habe keine Ahnung. Wichtig war aber, dass ich dank des Vortrags begriff, mich nicht an solchen vermeintlichen Aussagen festhalten zu dürfen. Simons Lautäußerungen waren unzuverlässig, sie mussten interpretiert werden, sie wörtlich aufzunehmen führte nur in irrige Kreise.
    Immerhin wurde mir damals bestätigt, dass ich richtig gehandelt und im Ansatz richtig gedacht hatte. Mein Kind war kein Idiot, sein Verhalten nicht chaotisch und sinnlos. Es war nur diktiert von bestimmten Einschränkungen.
    Ein weiteres Schlüsselerlebnis hatte ich während der Pause. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sprach Frau Kaminski an, die zu Beginn der Veranstaltung ein Grußwort gesprochen hatte und dabei als Bundesvorsitzende der Elternvereinigung vorgestellt worden war. Ich hatte Angst zu stören, lächerlich zu sein, fehl am Platz. Vorsichtig schilderte ich ihr in wenigen Worten den Sachverhalt und unsere noch ein wenig unsichere Diagnose. Sie gab mir sofort ihre Telefonnummer. Tag und Nacht könne ich anrufen, wenn ich Fragen hätte. Dann nahm sie mich bei der Schulter, um mich zu einem Mann zu schieben, von dem sie sagte, dies sei Herr Ursel, er leite das Autismus-Kompetenz-Zentrum in Nürnberg. Was das war, wusste ich damals noch nicht. Wie sich herausstellte, war es ein Ort, an dem man heulende

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