Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Gesänge, mein einziger Zugang zu meinem Kind. Ich saà da mit ihm und streichelte ihn, froh, ihn wenigstens körperlich berühren zu dürfen.
In jedem Buch stieà ich auf Sätze und Szenen, die mich tief beeindruckt haben und mir bis heute nicht aus dem Kopf gehen. Sie sind für mich ein Teil unserer Geschichte geworden, weil sie etwas davon einfangen, widerspiegeln, eine Frage beantworten oder mich einfach berühren. Manche davon brachten etwas in mir zum Klingen, obwohl das Geschilderte uns noch gar nicht betraf â so als ahnte ich schon, was auf uns zukäme, was ich später würde begreifen, gebrauchen, zu einem Teil unserer Geschichte machen können.
Etwa der Bericht eines Vaters, Charles Hart, der ein Buch über seinen Sohn Ted schrieb, das auch so heiÃt: »Ted«. Es ist eine Besonderheit schon deshalb, weil es meist die Mütter sind, die schreiben, wie sie es ja auch meist sind, die die Hauptlast im Zusammenleben mit dem Kind tragen. Er erschien mir anfangs kühl und viel zu distanziert, wuchs mir dann mit der Lektüre aber immer mehr ans Herz. Er war der Erste, der so ehrlich war zuzugeben, dass seine spontane Reaktion auf die Diagnose war: Ich nehme mein Kind in den Arm und springe mit ihm von der Fähre in den Tod. Diesen Gedanken kannte ich, die Utopie des gemeinsamen Sterbens. Weil man es im Leben mit dem Kind nicht aushält, es aber andererseits auch nicht los- und im Stich lassen kann. Also stirbt man eben zusammen, hält es fest und behütend im Arm und erlöst sich selbst dabei. Bis heute ist das eine schwarze Utopie für mich, die in der Ferne sanft schimmert und ihre Anziehungskraft nie völlig verloren hat.
Für mich kam diese »Lösung« bisher nicht in Frage, weil ich noch ein zweites Kind habe, das ich ebenfalls nicht alleinlassen kann. Einen Suizid, das ist mir immer bewusst, kann ich Jonathan nicht antun, nicht auch noch. Ich muss aushalten, um beider Kinder willen. Wenn es auch über lange Strecken zu meinen liebsten Gedanken gehört, dass der Ausweg der Selbsttötung da ist wie eine Tür, durch die man bei Belieben gehen kann. Wenn der eine achtzehn ist vielleicht, der andere sicher in einem Heim, dachte ich bei mir. Wenn einen keiner mehr braucht. Wenn man niemanden mehr zerstört mit der Entscheidung, nur noch sich selbst.
Und wäre es nicht wie ein endliches Aufhören, Ausatmen, Schlafenlegen?
Derselbe Vater schilderte in seinem Buch, wie sie sich als Familie so an ihr Unglück gewöhnt hatten, dass sie erst bei einem Urlaub mit Freunden bemerkten, wie anders sie waren. Zum Beispiel war es bei ihnen verboten, spontan laut zu lachen, weil das den autistischen Sohn erschreckte und aufregte. Im Spiegel des Befremdens der anderen erkannten sie, um wie viel sie sich Tag für Tag brachten; schweren Herzens gaben sie den Jungen kurz darauf in ein Heim. Er war offenbar eine andere Art Autist als mein Sohn, der jede Nacht bis zu seinem zehnten Geburtstag an meinen Körper gepresst einschlief und der es bis heute phasenweise kaum erträgt, wenn ich einmal den Raum verlasse. Denn Ted reagierte auf die fremde Umgebung nur mit der Frage: »Wohne ich jetzt hier?« Der Vater bejahte, und das war alles.
So etwas zu lesen lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück. Ich frage mich dann, ob mein Glaube an die Liebe meines Sohnes eine Illusion ist. Und das tut weh. All die Mühe, und dann so viel Kälte. Es tut auch schon weh zu denken, dass dieser Junge sehr wohl Empfindungen hat, dass er seine Eltern vermissen wird, ihm vieles fehlen mag, dass er es aber nicht ausdrücken kann. Trotzdem: Neben all dem Schmerz ist da eine kleine, verbotene, vielleicht verlogene Hoffnung, aber sie ist da und sie flüstert: »Warum kann es bei uns nicht so einfach sein?«
Meinen Vater, der das Buch ebenfalls las, beeindruckte eine andere Stelle: Der Junge hatte gelernt, seine Wäsche selbst zu machen. Waschmaschine, Trockner, zusammenfalten, in die Schublade legen, das war der Ablauf. Es funktionierte, bis der Vater eines Tages entdeckte, dass die gesamte, schön gefaltete Wäsche in der Kommode seines Sohnes klatschnass war. Der Trockner war kaputt, wie sich herausstellte. Der Sohn hatte seine Routine deshalb nicht verändert; Autisten können das nicht. Sie folgen strikt dem Schema und stehen geänderten Bedingungen hilflos gegenüber. Die Stelle fiel mir wieder ein, als Simon später mal
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