Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
weh.
Löwenmut, Glaube, Liebe, Einsatz â das werden Sie alles zur Genüge brauchen. Aber heilen werden Sie Ihr Kind damit nicht. Sie sind Sisyphus, nicht Jesus.
»Durch und durch autistisch«: Ob ich das von Simon auch glaube? Ja und nein. Es ist ja klar, dass ein Hirn, das mit so anderen Sinneswahrnehmungen gefüttert wird, zu anderen Schlüssen kommt als das unsere. Ich stimme Moore zu: Man sollte sie akzeptieren, wie sie sind. Sie deuten, sie ganz verstehen zu wollen, ist ein zum Scheitern verurteiltes Verlangen; diese bittere Erkenntnis bereitet immer wieder Schmerz, denn es tut weh zu wissen, dass man sein Kind nie ganz erreichen wird. Ja, das man nicht einmal ein verlässliches Bild davon wird gewinnen können, was und wer er in Wahrheit ist. Die ständigen Interpretationen, mit denen man sie notgedrungen überzieht, bieten nichts als schwankende und oszillierende Bilder. Es muss wohltuend sein, sich auf eine solche Erkenntnis zurückziehen zu können: durch und durch autistisch. Ich habe es noch nicht geschafft.
Weh tut dabei auch, daran zu denken, dass das eigene Kind trotz aller Mühen, die man auf sich nimmt, in dieser Welt nie ankommen und glücklich werden kann. Der Gedanke, dass Simon als Erwachsener seinen Platz nicht finden wird und vielleicht in irgendeiner Einrichtung endet, wo man ihn mit Psychopharmaka ruhigstellt, weil man sich anders nicht zu helfen weià oder weil man die Betreuung einfach nicht bieten kann, die er bräuchte, und dass ich das nicht verhindern kann, weil ich alt bin und mir die Kraft fehlt â dieser Gedanke ist so hart, dass ich ihn ganz, ganz tief vergraben muss, damit er mich nicht frisst. Lieber verdrängen und die kleinen, täglichen Schritte gehen, und seien sie noch so mühsam. Nach dem schlechten Tag kommt ja doch immer ein guter, nach der schweren Nacht eine, die ich durchschlafen kann, weil Simons Vater übernimmt, und nach der ich mir ein gutes Frühstück gönne oder einen Rosenstrauà von der Supermarktkasse. Ein Tag, an dem es mit der Arbeit vorangeht, eines meiner Bücher eine gute Rezension erhält oder ich den lobenden Anruf eines Kollegen. Ein Tag, an dem Simon lachend nach Hause kommt und vor Freude über die Pizza im Ofen mit den Armen wedelt und dann fröhlich an seine Playstation verschwindet, um später beim Spazierengehen den Arm um mich zu legen und mich ganz eindringlich anzusehen, so dass ich ihn einfach drücken muss. Solche Tage kommen immer mal wieder, sie geben mir Kraft, weiterzumachen, eine andere Alternative habe ich ohnehin nicht. In zynischen Momenten sage ich mir dann, die Ratten, die Kakerlaken und ich â wir überleben alles.
Natürlich wäre es tröstlich, denken zu können, dass Simon so ganz und gar anders ist, dass er sein Unglück gar nicht begreift. Aber meist nehme ich meinen Sohn wahr als einen Menschen, ein Kind, das in ohnmächtigem Zorn gefangen ist in einem Körper, der ihm nicht gehorcht und ihm nicht erlaubt, sich als das denkende und fühlende Individuum zu zeigen, das er ist. Als jemanden, der Sätze äuÃern kann wie: »Ich bin zornig, weil Jonathan ist normal.« Oder der â sehr viel später â auf sein Buchstabenbrett tippte, was er von der Todesstrafe hält: »Ich bin dagegen, weil jeder am Gefängnis genug hat.« Der mir sagen kann: »Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können.« Oder der mir, nach einem Wutanfall befragt, entgegnet: »Ich will meine Gefühle nicht erkunden.«
Das sind doch erstaunlich klare Aussagen, sollte man meinen. Von einem Individuum stammend, das diese Welt durchaus mit uns teilt, das Gefühle hat, einen Willen und jedes Recht, sich zu verweigern. Ich gebe zu, diese Momente der Verständigung sind selten, häufiger fallen Sätze wie »Du hast es mir weggegessen«, in Abwesenheit jeglicher Lebensmittel, versteht sich. Oder: »Ich will einen Hasen.« Wahlweise auch: »Sie gehen zu den Mädchen, weil es regnet.« Okay. Aber das ist eben nur die eine Seite.
Die andere ist: Natürlich zieht es Autisten nicht immer in unsere Welt. Wozu auch? Warum sollten sie die riesige Anstrengung auf sich nehmen? Warum gegen die Sonnenstürme in ihren Synapsen angehen, warum dem überwältigenden Ansturm der optischen und akustischen Reize standhalten, warum sich konzentrieren und den Verführungen der Muster widerstehen, die das Spiel
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