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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Essen nur nach kreativer Vorarbeit unterjubeln kann. Sei es, dass die Abende und Nächte ganz im Zeichen der seltsamen Schlafgewohnheiten des anderen stehen. Die Mutter verbringt sie zum Teil auf einer Couch, die zwischen den Betten ihrer autistischen Söhne steht, weil das gemeinsame Einschlafen der beste Weg ist, ihnen klarzumachen, dass der Tag vorbei ist. Ihren gesunden Sohn hat sie derweil eingesperrt, damit er vor Überfällen seiner hyperaktiven Brüder sicher ist. Später wechselt sie ins eigene Bett, für ein paar ruhige Stunden, ehe wieder einer oder gleich alle beide zu ihr kriechen und der Schlaf zur Patchwork-Veranstaltung verkommt. Wie gut kannte ich immerhin das! Ob mein eigenes Leben auch so fest im Korsett des Autismus saß, vermochte ich weder zu sehen noch zu sagen. Es musste jemand von außen kommen, um es mir zu demonstrieren.
    Aus Moores Buch stammt auch die Geschichte mit dem Kanister Olivenöl, den einer ihrer autistischen Söhne in der ganzen Küche verschüttete. Sie stimmte mich jahrelang dankbar, weil mir so etwas noch nicht widerfahren war. Bis Simon mit etwa zehn Jahren zu »kochen« begann und ich eines Morgens die ganze, wirklich die ganze Küche mit Ketchup aus der Spritzflasche verziert vorfand. Und ich meine die ganze Küche: Hängeschränke, Arbeitsplatte, Ablagen, Türen und Boden, auch die Obstschale war nicht verschont geblieben, ebenso wenig der Mixer, die Brotkörbe und was sonst noch so in einer Küche herumsteht, inklusive der gekachelten Wände und des Fensters. Ich putzte beinahe zwei Stunden, das Zeug klebte widerlich. Heute ist das eine witzige Geschichte, aber damals, an jenem frühen Morgen so gegen fünf, stand ich nur fassungslos blinzelnd vor der Bescherung. Von da an hatte auch ich Schlösser an allen Küchenschränken, ganz so wie die leidgeprüfte Mrs Moore es beschrieb. Wie wunderbar englisch-gleichmütig sie es schrieb. Um dieses Gleichmaß ringe ich noch.
    Aus dem Buch über Sam und George stammt auch ein Satz, der mich oft beschäftigt, weil er einen der Pole des schwankenden Bildes ausmacht, das ich von Simon habe. Die Autorin sagt, ihre Kinder seien keine normalen Jungs, gefangen in einem behinderten Körper. Sie seien »durch und durch autistisch«. Was Charlotte Moore damit meint, kann am besten ein weiterer Schriftsteller erklären, Jean Vautrin, einer meiner französischen Lieblingskrimiautoren, der mit »Haarscharf am Leben« einen Roman über seine vom Autismus versehrte Familie schrieb. Der autistische Sohn stand immer mit dem Rücken an die Wand gepresst und schrie, weil er, was keiner wusste, sich einbildete, der gesamte Boden des Zimmers vor ihm sei mit Hühnern bedeckt. Mit vierzehn Jahren begann er endlich zu sprechen und sich der Umwelt mitzuteilen; mit so einem Fortschritt hatte niemand mehr gerechnet, es war ein Wunder. Sein erster Satz lautete: »Diese verdammten Hühner.«
    Autisten, das meinte die Autorin mit »durch und durch autistisch«, sind nicht nur durch ihre defekten Synapsen daran gehindert, sich auszudrücken. Sie nehmen die Welt wegen ihrer falsch gepolten Sinne nicht nur anders wahr, sie denken auch grundsätzlich anders. Der positive Schluss, den sie daraus zog: Man soll sie hinnehmen, wie sie sind. Und man soll sich, auch wenn sie das nicht ganz so deutlich sagt, nicht kaputtmachen bei dem Versuch, sie zu verstehen und zu retten. Denn das kann nicht gelingen. Man kann Charlotte Moore nun wirklich nicht vorwerfen, dass sie sich nicht für ihre Jungs engagiert, das Gegenteil ist der Fall. Aber ich kenne das auch, dieses tiefe Misstrauen gegen diese gar nicht so seltenen Bücher mit wunderbaren Klappentexten, in denen Sätze wie diese stehen: »Wie der löwenhafte Kampf einer Mutter die Mauern durchbrach.« – »Wie der unbeirrbare Glaube das Kind wieder zum Lachen brachte, der selbstlose Einsatz es ins Leben zurückholte.« – »Wie die Kraft der Liebe es am Ende heilte.«
    Heilte? So weh es tut, aber am Ende, nach schmerzhafter Lektüre all dieser Berichte, bleibt die Erkenntnis, dass all diejenigen, die geheilt wurden, nach heutigem Erkenntnisstand einfach keine Autisten waren. Es waren Kinder mit schweren Allergien, die autistoide Verhaltensweisen auslösten. Ich selbst meide jedes Buch, auf dem das Wort »geheilt« auch nur im Kleingedruckten steht, inzwischen wie die Pest. Es tut zu

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