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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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in der Schule Probleme mit der Toilette bekam. Seine Routine war es, das Pissoir im Vorraum zu benutzen. Als dieses eines Tages ohne Vorwarnung abgeschraubt worden war, wollte er erst die Toilette wieder verlassen, wurde aber von seiner ahnungslosen Schulbegleiterin wieder zurückgeschickt, er solle sein Geschäft erledigen. In seiner Not, unfähig, die Routine umzustellen, auf die er geprägt war, pinkelte er an derselben Stelle, an der das Urinal vorher war, an die Wand. Als ich es erfuhr, erkannte ich es als so typisch autistisch, dass ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte.
    Als Simon dann begann, wegzulaufen, kam mir eine dritte Schilderung über Ted wieder in den Sinn: Der Junge hatte seinen Kopf gegen eine Glasscheibe geschlagen, und der Vater hatte ihn in die Notaufnahme gebracht mit der Bitte, niemand dort solle Aufhebens von der Sache machen oder Mitgefühl zeigen. Die Versorgung solle rein sachlich und kühl erledigt werden. Der Mann erschien den Krankenschwestern und Ärzten als herzloses Monster. Dabei war es lediglich so, dass er wusste: Für seinen Sohn war dieses Verhalten der Versuch, etwas durchzusetzen. Würde man ihn mit Aufmerksamkeit und Zuwendung belohnen, würde er es als erfolgreiches Verhalten einstufen und folglich in sein Repertoire aufnehmen. »Wenn Sie nicht wollen, dass wir künftig jede Woche hierherkommen«, sagte der Vater, »halten Sie sich bitte an meine Anweisungen.«
    So viel Selbstbeherrschung, so wenig Spontaneität, es war ein seltsames, ein trauriges Elternsein, dachte ich, als ich es las. Dann hatte ich den dritten Polizeieinsatz in Folge, um mein weggelaufenes Kind wiederzufinden. Als er spätabends im Wald endlich aufgegriffen wurde, sagte er: »Da war ich eine Stunde der Größte.« Da fiel mir Ted ein, und ich dachte, ich hätte den Polizisten sagen sollen, sie sollten sachlich und streng mit ihm sein, kein Aufhebens machen, keine weitere Beachtung schenken, wenn sie nicht wollten, dass wir sie jetzt jedes Wochenende riefen.
    Sogar zur Literatur fand ich zurück bei meiner Suche nach Erfahrungsberichten. Der englische Romancier Nick Hornby etwa hat ein autistisches Kind. Ich weiß das aus seinem Vorwort zu dem Buch einer britischen Journalistin, die gleich zwei autistische Söhne hat. Zwei! Hornby schreibt neben den Problemen auch von der Chance, mit einem autistischen Kind einen wunderbar wilden Anarchismus zu erleben, der einem intensive Momente bescheren kann. Etwa, wenn er mitten in der Nacht, bei Kälte und Regen, seinen Sohn nackt auf dem Trampolin im Garten springen sieht. Er bittet, ihn nicht falsch zu verstehen, natürlich bringe er das Kind zurück ins Haus und rubbele es trocken, ehe es sich den Tod hole. Aber er spüre auch die seltsame Schönheit dieses Augenblicks.
    Ich wusste sofort, wovon er sprach. Auch mein Sohn entwickelte in seiner kompromisslosen Andersartigkeit solche Momente der Schönheit, die man wahrnehmen konnte, wenn man die bürgerlichen Maßstäbe des Normalen, Schicklichen und Richtigen mal beiseiteließ. Auch er sprang leidenschaftlich und hingegeben, wenn er auf dem Trampolin war, mit geheimnisvoll anmutenden Handbewegungen und einer scheinbaren Hemmungslosigkeit – ich sage scheinbar, weil er nie einen Unfall hatte und auch niemals etwas riskierte –, der man stundenlang zusehen konnte. Ich gestehe, die nächtliche Trampolinszene Hornbys gestohlen zu haben für meinen Krimi »Gestorben wird immer«, in dem die Hauptfigur einen autistischen Cousin hat. Es war das erste Mal, dass ich mich auf literarischem Wege an das Thema heranwagte. Aber das kam viel, viel später. Jahrelang war das Thema zu schmerzhaft, war ich zu sehr mit dem Löschen des brennenden Topfes beschäftigt, um darüber auch noch schreiben zu können. Außerdem war ich froh, in der wenigen Zeit, die mir ohne Simon blieb, nicht auch noch mit Autismus zu tun zu haben.
    Das Buch, zu dem Hornby das Vorwort schrieb, heißt »Sam, George und ein ganz normaler Montag«. Die Verfasserin, Charlotte Moore, hat drei Söhne, von denen die älteren beiden autistisch sind. Als ich es gelesen hatte, fragte ich mich, wie ich noch mit Anstand über das Leben mit nur einem Autisten jammern konnte. Moore beschreibt ein Leben, das völlig von Autismus bestimmt ist. Sei es, dass sie dem einen Sohn, der nicht erwachsen werden will und deshalb Nahrung verweigert, das

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