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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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nicht genug zu tun – sie waren und sind mein ständiger Begleiter.
    Manchmal waren die Bücher widersprüchlich. So empfahlen die einen Ratgeber zum Beispiel, unbedingt Blickkontakt einzufordern, ehe man mit dem Kind sprach. Es sei nötig, dass es das lerne, weil es eine Grundbedingung menschlicher Kommunikation und gemeinsamen Handelns sei. Ein anderer Autor gab zu bedenken, dass bei vielen Autisten aufgrund ihrer Wahrnehmungsstörungen die anderen Sinneskanäle blockierten, wenn man sie zum Hinsehen zwang. Das Schauen beschäftige und überfordere sie so, dass Hören und anschließend auf das Gehörte zu reagieren gar nicht mehr möglich sei.
    Simon löste das Hinschauen-Sollen auf seine Weise. Wenn ich ihn ermahnte, mich oder eine Sache anzusehen, ging er ganz nahe heran, zum Beispiel an mein Gesicht, und riss seine ohnehin schon so großen blauen Kugelaugen noch weiter auf. Simon demonstrierte ›Schauen‹, er spielte es mir vor. Natürlich nahm er dabei noch weniger wahr, als wenn er die Dinge wie üblich nur aus den Augenwinkeln flüchtig streifte. Wie prekär das war, wurde mir im Straßenverkehr bewusst, wo er an jeder Straße auf mein Kommando hin erst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links schaute. (Wissen Sie, wie viele Straßen man im Laufe der Jahre überquert? Und wie oft wir diese Szene also durchspielten? Immer mit dem Wissen im Nacken, dass man für Autisten alles stets gleichförmig durchführen muss? Keine Ausnahmen, kein Nachlassen. Keine Hoffnung auf einen schnellen Erfolg und immer bedroht vom Rückfall, wenn man das Gelernte nicht weiter und weiter pflegte.) Simon drehte brav den Kopf, die Augen so weit aufgerissen, wie es anatomisch irgend möglich war. Damit war er so beschäftigt, dass mir völlig klar war: Er konnte gar nicht auch noch auf Autos, Radfahrer oder etwas anderes achten. Es blieb so viel zu tun.
    Am wertvollsten waren für mich die Erlebnisberichte von Autisten. Endlich, endlich einmal war eine Stimme zu hören von jemandem, der mit Simon zumindest ein klein wenig gemeinsam hatte. Manche erzählten einfach staunenswerte Geschichten. Da ist die von der berühmt gewordenen Autistin Temple Grandin, die Professorin für Verhaltensforschung wurde und aus dem Gerät, das sie als Pubertierende entwickelte, um sich hineinzuquetschen und durch die Ganzkörperberührung ihre überbordenden Aggressionen zu bewältigen, eine Vorrichtung entwickelte, die heute weltweit eingesetzt wird, um Rinder beim Transport zum Schlachthof zu beruhigen. Die Tiere werden damit beim Ein- und Ausladen gelenkt; sie haben weniger Angst, und das Fleisch ist dadurch nicht so stark mit Stresshormonen belastet.
    Eine andere Autistin, Dawn Prince-Hughes – ebenfalls Hochschullehrerin für Verhaltensforschung –, erzählt, wie die Beobachtung von Gorillas im Zoo sie, die damals fast auf der Straße lebte und gesellschaftlich abzustürzen drohte, dazu brachte, menschliches soziales Verhalten überhaupt wahrzunehmen und zu begreifen. An den Affen hat sie erst gelernt, Mensch zu sein. Ihre Beobachtungen über diese Tiere sind ebenso ergreifend wie die über sich selbst.
    Oder die Geschichte jener Autistin, die, wenn etwa Polizisten auf dem Bahnhof ihren Ausweis kontrollieren wollen, total ausflippt, so dass mehrere Mann sie nicht halten können und sie so außer sich ist, dass sie nicht mehr sprechen kann und die deshalb einen laminierten Zettel mit sich führt, auf dem steht, wer und was sie ist und dass sie keine Psychopharmaka bekommen darf. Im normalen Leben ist sie Linsenschleiferin mit einer so ruhigen Hand, dass man ihr Arbeiten anvertraut, für die Maschinen nicht präzise genug arbeiten. Ȁpfel, Sterne, rundes Glas« heißt ihre Lebensgeschichte.
    Am erhellendsten waren die Bücher von Dietmar Zöller, der so anschaulich beschreibt, wie schwer es ihm fällt, den eigenen Körper wahrzunehmen, und wie viele seiner Verhaltensweisen daraus resultieren, dass er versucht, sich überhaupt zu spüren. Wie Arme und Beine zum Beispiel als taube, schlaffe Anhängsel erlebt werden, die erst allmählich Gefühl und Funktion bekommen, jedoch niemals ohne Hilfe von außen. Das ermutigte mich, die Zärtlichkeiten mit Simon auszubauen, ihn zu massieren, zu drücken, mal fest, mal leicht, ihn zu kitzeln. Oft war das, verbunden mit dem Austausch monotoner

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