Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Männern und einsam sein. Unbetanzt ging ich nach Hause, um ein Uhr nachts, mit wehen FüÃen von den geliehenen Schuhen, in viel zu dünner Kleidung für das Wetter drauÃen und musste alle Kräfte zusammennehmen, um meinem glücklichen, aufgekratzten Sohn ein offener Gesprächspartner zu bleiben.
Tja, dachte ich, das war sie nun, die Zukunft einer geschiedenen übergewichtigen Mittvierzigerin mit behindertem Kind.
Wie würde Simon es nehmen? Das war, unfair, aber wahr, meine gröÃte Angst bei der Sache. Das Kind hatte uns ja schon mehrfach bewiesen, dass es Ãnderungen in seinen Lebensumständen nicht vertrug und mit Krisen quittierte, die uns Schlaf und Kraft raubten und ihn und uns dem Zusammenbruch nahebrachten. Seit seiner Krise nach der Einschulung hatten wir keinen Urlaub mehr gemacht, er schaffte es nicht, es länger in fremder Umgebung auszuhalten, nicht eine Nacht hatte er in den letzten Jahren auÃerhalb seines Geburtshauses verbracht. Das Silvester davor hatten wir mal wieder den Versuch unternommen, mit Freunden zu feiern, die er lange Jahre kannte. Wir hatten die Reisetasche gemeinsam mit ihm gepackt und ihm gleich nach der Ankunft das Bett gezeigt, in dem er schlafen sollte, nicht alleine, sondern an unserer Seite.
Schon beim Abendessen fing Simon an, einen nervösen Tick zu entwickeln. Immer wieder wischte er sich mit dem Ãrmel über den Mund. Als gegen zehn Uhr die Haut durchgescheuert war und Simons Gesicht mit Blut verschmiert, gab ich auf. Jonathan und sein Vater blieben bei der enttäuschten Gastfamilie, um wenigstens Rumpfsilvester zu feiern, ich fuhr die einstündige Strecke heim, wusch Simon in der Badewanne das Blut ab, damit er nicht mehr wie ein kleiner Zombie aussah, legte ihn schlafen und schaute dann von Mitternacht bis zwei die Mitschnitte von Live-Konzerten auf 3sat, um meine Stimmung mit Hilfe der Tanzrhythmen über Bodenniveau zu halten.
Und jetzt sollte Simon den Wohnort wechseln?
Gerade lief alles gut, so gut wie seit Jahren nicht. Er hatte Routine in der Schule und Menschen um sich, mit denen er klarkam. Wir schliefen neuerdings einen guten Teil der Nacht, ich war morgens nicht mehr ganz so gerädert, und die Vormittage hielten gut vier Stunden autismusfreie Arbeitszeit für mich bereit. Woher sonst auch hätte ich die Kraft genommen, mein Leben auf den Kopf stellen zu wollen?
Nun war ich dabei, Simon seine Basis zu rauben.
Andererseits hoffte ich, ihm für das, was ich ihm wegnahm, auch etwas geben zu können: mich, meine Zuversicht und neu erwachte Lebensfreude. Ich war wieder da. Ich hoffte, er könnte davon ebenfalls profitieren. Aber lag ich da richtig? Wie würde er reagieren? Mit einem Kollaps? Einer heftigen Panikattacke? Wie sollte ich alleine damit fertig werden? Ich hatte mehr als Angst.
All meinen Bedenken zum Trotz schien es Simon gut zu gehen, während ich jeden Tag auf den Einbruch lauerte und mich vor dem Umzug fürchtete, der für ihn, mit seinem Bedarf nach RegelmäÃigkeit und Ãberschaubarkeit, sicherlich einen schweren Einschnitt bedeutete. Schon der wachsende Berg von Umzugskisten im Wohnzimmer, wo ich über Wochen hinweg an den Abenden Regale abbaute, Bretter lackierte und mehr als fünftausend Bücher verpackte, veränderte seine gewohnte Umgebung sichtbar. Zwei unserer vier Katzen verschwanden; ich gab sie weg, weil ich sie nicht mitnehmen konnte. Der kleine schwarze Kater, der so gerne raufte, musste gehen. Jonathan trauerte vor allem Cora nach, die in seinem Zimmer residiert hatte, weil sie schon eine ältere Dame war und gern den Trubel unten im Wohnzimmer mied. Schwer vorzustellen, dass sie künftig in einer Familie mit kleinen Kindern leben sollte und dort ihres dreifarbigen Fells wegen »Pizza« hieÃ. Unsere Welt veränderte sich.
Dennoch blieb alles ruhig. Simon machte sich schlicht groÃartig. Aus der Schule trafen die Nachrichten ein, dass er offenbar lesen konnte, jedenfalls tippte er, wenn man ihm einen Text zeigte, danach bei Multiple-Choice-Fragen zum Gelesenen auf die richtigen Antworten. Wo und wann er das gelernt hatte? Wir wussten es nicht.
Am Computer legte man ihm ein Lernprogramm nach dem anderen vor, das er mittels Gestützter Kommunikation tippend bearbeitete. Siehe da: Sein Wortschatz war groÃ, seine Rechtschreibung quasi fehlerfrei, sein umfangreiches Allgemeinwissen lieà die einfachen Programme bald uninteressant
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