Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
dachte, wurde mir angst und bange. Eben erst hatte ich ihn wirklich kennengelernt und wollte ihn nicht so schnell wieder verlieren.
Jonathan nahm die Ankündigung mit einem »das dachte ich mir schon« auf und wandte sich dann wieder seiner Lektüre zu. Er brachte es nicht einmal auf ein paar Tränen. Meine Mutter und ich waren der Meinung, dass er nicht verdränge, sondern die Neuigkeiten wirklich gut aufnähme. Aus dem »Paradies« seiner Kindheit â das ist im Ãbrigen seine Formulierung, und ich darf mir als Feder an den Hut stecken, ihm tatsächlich ein Paradies bereitet zu haben â fühlte er sich ja schon durch Simon vertrieben. Oder besser, durch Werner. Diesen Prozess der Vertreibung, dachte ich, schloss ich durch die Scheidung jetzt also nur noch ab, zum Glück zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich ohnehin anschickte, das Reihenhausparadies aus eigenen Kräften zu verlassen.
Im Grunde standen wir beide an einer ungewissen Grenze, voller Zukunftshoffnungen und zugleich -angst, beide in Aufbruchsstimmung, umgetrieben von einem Wunsch nach Liebe und Selbstbestimmung, von dem wir nicht wussten, ob er uns je erfüllt werden würde, und auch voller Zweifel über die eigene Attraktivität, die eigene Kraft. Ich konnte vieles von dem, was ihn gerade bewegte, so gut nachfühlen, weil es mich gerade selbst betraf. Er stand mir in dieser Zeit auch sehr nahe, war zärtlich und offen. An den späten Abenden, das war unsere Zeit, führten wir unsere Gespräche, die er als eine Sache nur zwischen ihm und mir begriff. Ãber seinen Vater sagte er: »Es ist nicht so, dass wir uns auf einer Ebene geistigen Austausches befänden. Aber ich sage ja nicht, dass ich ihn nicht mag.« Bei einer Familienaufstellung, in deren Zuge er mich übrigens als Kamel besetzte und Simon als Kuckuck, wählte er für seinen Vater den Maulwurf.
Das war natürlich nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Bezeichnenderweise kann Jonathan sich an seinen freundlich-vernichtenden Satz heute gar nicht mehr erinnern. Er lebt glücklich bei seinem Vater, den er neu als »einen tollen Papa« erlebt und schätzt. Als er den Satz vom fehlenden geistigen Austausch sagte, spiegelte sich darin sicher die damalige Situation, in der sein Vater begonnen hatte, sich von seiner schwierigen Familie innerlich abzuwenden. Und er stand vermutlich unter dem dämpfenden Einfluss eines Schocks.
Im Gegenzug knallte Jonathan mir Jahre später sein »Ich hasse dich« vor den Latz, unterfüttert mit einer Fülle von Gründen, zu denen die Scheidung und meine Haltung seinem Vater gegenüber sehr wohl zählten. Damals aber wollte ich ihm glauben, weil es mir ersparte, mit dem Gedanken zu leben, dass ich ihm etwas weggenommen hätte. Und weil es mir guttat zu denken, dass er meine Bewegung weg von seinem Vater mitvollzog. Wieder einmal hatte er es mir erspart, ein Problem mehr zu haben.
Jonathans Abschlussball fiel in die Zeit der Trennung. Ich erinnere mich nicht, aber ich vermute mal, dass wir die Karten gekauft hatten, als alles noch »normal« war. Kneifen wäre ohnehin nicht in Frage gekommen. Für Jonathan war der Ball keine lästige Pflichtübung, sondern ein Höhepunkt, er tanzte gerne und besuchte auch danach noch lange Veranstaltungen der Tanzschule. Sein Vater und ich warfen uns also in Schale, um ihn zu begleiten, wie es sich gehörte, ich mit geliehenem Kram, da ich die passende Kleidung gar nicht mehr besaÃ, und absolvierten unwohl ein, zwei steife Tänze. Dann ging er, um den Babysitter abzulösen, und ich blieb, damit Jonathan Gelegenheit hatte, die Sache auszukosten. Es wurde ein sehr einsamer Abend. Niemand forderte mich zum Tanzen auf, das ist so in so kleinen Gemeinden: Alle kommen mit ihren festen Partnern, alles gesetzte Paare, und man betanzt allenfalls noch die am Tisch sitzende Gattin von Bekannten. Ich war also darauf vorbereitet, alleine am Tisch zu sitzen und mein Weinglas zwischen den Fingern zu drehen. Mir erschien das in diesem Moment wie ein Menetekel, ein Blick in eine Zukunft auf dem Abstellgleis.
Statt eines Tanzpartners traf ich eine Bekannte von früher, die sich in derselben Lage befand: geschieden und alleine hier, der Tochter wegen. Wir unterhielten uns sehr nett. Auch das schien mir traurig-zukunftsträchtig zu sein: Ich würde, dachte ich, künftig wohl weit mehr interessanten Frauen begegnen als
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