Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
keinen Mann mehr hatte, der sich über die Beine von Simon werfen konnte. Mir graute auch davor, mein Kind zu knebeln, und ich fragte mich, wie lange ich Simon würde halten können, bis einer von uns sich ernsthaft verletzte.
Die Frage treibt mich noch heute manchmal um. Simon ist jetzt elf, er wird mal dreizehn, vierzehn, fünfzehn sein, gröÃer und stärker als ich. Wenn er bis dahin nicht gelernt hat, anders mit seinen Emotionen umzugehen, was dann? Ich sah Heim und medikamentöse Ruhigstellung für ihn, eine Zukunft als geschlagene Frau voller blauer Flecken für mich. Mir war hundeelend. Simon spürte das, oder spürte er etwas anderes? Keiner kann das sagen, jedenfalls schlief er nicht in den zu diesen Tagen gehörigen Nächten. Er stand vor meinem Bett wie ein Nachtgespenst, unwillig, sich hinzulegen oder Ruhe zu geben. Als könne er nicht ohne meine Gegenwart sein, als hätte er mir noch was zu sagen oder wolle etwas hören oder erfahren. Oder mich einfach nur quälen. Ich hätte so dringend eine Pause gebraucht, ein paar Stunden sicherer Ungestörtheit in meinem Zimmer, bei einer brennenden Kerze und vielleicht einem Buch. Oder Schlaf. Aber ich bekam weder das eine noch das andere.
Wenn ich ihn in sein oder auch mein Bett stecken wollte, schrie er. Es ging hin und her, nie kehrte Ruhe ein. Irgendwann schrie ich zurück, so laut wie er, mit gekrümmtem Leib, aus voller Kehle und so schrill, dass ich danach tagelang heiser war. Er starrte mich an. Holte Luft und schrie wieder. Ich schubste ihn. Er schubste mich. Da stieà ich ihn mit halber Wucht gegen das Bett. Volle Hemmungslosigkeit gewährte ich mir zum Glück nicht einmal in diesem Moment. Aber wie erschreckend gerne hätte ich ihm weh getan.
Ich brüllte ihn an, dass er mich in Ruhe lassen solle. Dass er die Pest sei. Dass er mein Leben zerstöre. Dass ich ihn hasse. Und in diesem einen Moment meinte ich es.
Simon blieb, wo er war, und schrie. Es änderte sich nichts. Um ihn still zu bekommen, hätte ich ihn schon totschlagen müssen.
Da gab ich auf. Ich klappte zusammen, weinte und schämte mich, schämte mich maÃlos. Voller Angst legte ich mich mit ihm hin und umklammerte ihn, fragte mich, was ich in ihm wohl kaputtgemacht hatte mit meinen verletzenden Worten. So etwas hatte ich noch nie zu meinem Kind gesagt, es war das Schlimmste, was ich je getan hatte, ihn mit Worten zu vernichten. Ich zog ihn an mich, ich hielt ihn und drückte ihn, was für Simon sicher mindestens so verstörend war wie meine Aggression zuvor. Was sollte das Kind mit meinen wirren Gefühlen?
Ich versicherte ihm flüsternd, dass ich ihn liebe, dass ich nur die Nerven verloren hätte. Und ich versuchte, mich an meine theoretische Klugheit klammernd, ihm zu erklären, wie das war mit der Wut und der Verzweiflung.
Keine Ahnung, ob ihn irgendetwas davon erreichte. Mir blieben die Scham und die Angst, ihn irreparabel geschädigt zu haben. Es war Wochenende â natürlich â keine Therapiestelle zu erreichen. AuÃerdem hatte ich bereits alle abtelefoniert, als das mit dem BeiÃen angefangen hatte. Festhalten. Aushalten. Das war der Rat, den man mir gegeben hatte. Wahlweise auch: »Seien Sie durchaus authentisch in Ihren Reaktionen.«
Da ich schon einmal am Schämen war, lieà ich alle Hemmungen fallen und rief Simons Psychiater zu Hause an; ich hörte Küchengeräusche im Hintergrund, als ich mit ihm sprach. Höchstmögliches Gleichmaà in der Umgebung, eine höhere Dosis Risperidon (das ist ein Antipsychotikum, das in der Altenpflege bei Demenzkranken zum Einsatz kommt und bewirken soll, dass er ruhiger wird und die plötzlich einschieÃenden Impulse gedämpft werden), dazu Dipiperonsaft zum Einschlafen. So weit reichte sein Arsenal an Hilfestellung.
»Und was mache ich?«, fragte ich.
»Geht es Ihnen so schlecht?«, fragte er.
Ich konnte nicht antworten. Simons Aggressivität und mein eigener Ausraster waren zu viel für mich gewesen. Er empfahl mir eine Telefonseelsorge. Ich rief stattdessen eine Freundin an. Und noch eine. Ãberstand diesen Abend, dann den nächsten Tag, die nächste Nacht. In einem meiner Lieblingsfilme, »Kammerflimmern«, sagt eine der Hauptfiguren, es gehe nicht um Liebe, denn wenn du etwas liebtest, würde es dir weggenommen und zerstört. Ich könnte hinzufügen: Oder die Liebe wird dir so
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