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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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schwer gemacht, dass du sie kaum erträgst. Was uns bleibe, sagt die Figur, wenn alles zu Ende scheine, das seien zwei Dinge. Einatmen. Und ausatmen. Ich atmete.
    Der Dipiperonsaft wirkte nicht bei Simon. So etwas kommt bei Autisten vor. Auch die nächsten beiden Medikamente beeindruckten ihn in keiner Weise. Erst Tavor zeigte ein wenig Wirkung.
    Irgendwann war der August vorbei. Die Schule begann wieder, die Tagesstätte setzte ein. Simon hörte übergangslos auf, fest zuzuschlagen, und er hat nie wieder gebissen.
    Was blieb, war die Angst vor dem nächsten August.
    Für die Nachbarn waren sicherlich die Polizeieinsätze beeindruckend, von denen wir allein im ersten Jahr drei hatten. Es begann eine Phase, die im Moment zum Glück vorüber scheint, in der Simon gerne davonlief. Einmal zischte er mir in einem kurzen unbeobachteten Augenblick bei einem Radausflug in die Stadt davon. Ein andermal bei einem Picknick mit Freunden im Wald. Ein drittes Mal verschwand er von seinem Trampolin vor dem Haus, als ich kurz die Einkäufe reinbrachte.
    Bei diesem dritten Mal offenbarte er sein spezifisches Glück. Er betrat nämlich ein Haus in der Nachbarschaft, suchte das Kinderzimmer auf und verkündete der verblüfften Mutter der vier dort lebenden Kinder, dableiben zu wollen. Sie rief ihren Mann an, der Arzt war, heimkam und sich Simons annahm. Er tat das so einfühlsam, dass Simon ihm tatsächlich half, den Rückweg zu finden. Es stellte sich heraus, dass der nur rund 100 Meter betrug. Der Nachbar stellte sich vor, als er mir Simon an der Haustür übergab; ich war gerade von meiner atemlosen Suche in den nächstgelegenen Straßen zurück und wollte ins Auto steigen, um meinen Radius auszuweiten. Der ehrliche Finder war Oberarzt in der Städtischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Fast war es zum Lachen: Simon war den einzigen Menschen im kilometerweitem Umkreis zugelaufen, die einschätzen und erkennen konnten, wen sie da vor sich hatten.
    Die anderen beiden Male war Simon mehrere Stunden unterwegs. Ich war bereits alle in Frage kommenden Wege abgefahren oder -gelaufen, atemlos und wissend, dass sich mit jeder falschen Entscheidung sein Vorsprung vergrößerte und die Zahl der möglichen Richtungen, die er eingeschlagen haben könnte, vervielfältigte. Immer dauerte es lange, bis die Polizei kam. Vielleicht konnten sie nur schwer glauben, dass ein Junge, dessen Alter mit neun angegeben wurde, völlig hilflos sein sollte. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich mir jede Minute, die verging, die schlimmsten Sachen ausmalte. Mein Hals wurde enger und enger und die Anstrengung, die Panik zu unterdrücken, immer größer. Was, wenn er vor ein Auto lief? Er war ja alles andere als sicher im Straßenverkehr. Was, wenn er einem Menschen begegnete, der seine Hilflosigkeit erkannte und ausnutzte? Ich hielt das Warten nicht aus und rief Freunde, Verwandte und Bekannte an, mobilisierte alle, die tagsüber erreichbar waren, und schickte sie in bestimmte Areale, die einen mit dem Auto, die anderen zu Fuß. Simons Vater gab sich ganz gelassen: »Der muss ja schließlich wieder auftauchen.« Ich konnte diese Haltung nicht verstehen. Wieso musste er?
    Schlimm waren auch die Fragen der Polizei: Wo er hingewollt haben könnte? Was für Ziele er so ansteuere? Ob er alleine nach Hause zurückgegangen sein konnte? Wie sollte ich das beantworten?
    Simon wollte meiner Ansicht nach nirgendwohin, er hatte keine Ziele. Er hatte ja noch nie etwas alleine unternommen oder auch nur unternehmen wollen. Er ging nicht Freunde oder die Großeltern besuchen wie andere knapp Zehnjährige und hatte auch sonst wenige Orte, die sein Interesse weckten. Er war einfach einem plötzlichen Impuls gefolgt.
    Es ging mir wie dem Mädchen in dem Bilderbuch »Unterwegs mit Jan«, das nach seinem im Park verlorengegangenen autistischen Bruder sucht. Die Passanten waren voller guter Ratschläge: Er wird am Eisstand sein, er wird beim Baseball zuschauen. Aber sie wusste, dass das alles nicht stimmen konnte, weil so etwas ihren Bruder nicht interessierte. Er war einfach anders.
    Außerdem, selbst wenn Simon ein Ziel gehabt hätte, wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass er es erreichte. Seine räumliche Orientierung war zwar gut, wenn ich beim Autofahren mal von der gewohnten Route abwich, fragte er sofort argwöhnisch vom Rücksitz: »Wohin fahren wir?«

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