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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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hieß es. »Ich führe nicht den Hund aus, sondern meinen Sohn. Der Hund ist nur Tarnung«, antwortete ich. Andere Tätigkeiten wie Wäsche aufhängen, ein Lied gemeinsam auf YouTube suchen, ihn zwingen, etwas auszumalen oder auszuschneiden, dauerten jeweils kaum 15 Minuten. Wenn Sie dazwischen Pausen einlegen, schaffen Sie nach dem Aufstehen drei solcher Beschäftigungseinheiten, und es ist immer noch erst sieben Uhr. Sie können dann einen langen Spaziergang mit Spielplatzbesuch unternehmen, und wenn Sie müde zurückkommen, ist es gerade mal neun. Sie legen ein zweites Frühstück ein, geben nach und erlauben eine Runde Playstation. Es ist dann zehn Uhr. Vier Stunden vorbei, elf liegen noch vor Ihnen.
    Noch jeden August war Simon in ein Loch gefallen. Er regredierte und zeigte Verhaltensweisen, die wir schon längst überwunden zu haben glaubten; im Jahr zuvor war es die Pinkelorgie gewesen, der ich einfach nicht Herr wurde. Es lief aus ihm heraus, wo er ging und stand. Generell wächst die Unruhe, der Schlaf wird unsicher, die plötzlichen Anfälle nehmen zu. Ein weiteres Jahr zuvor war Simon außerdem bei Spaziergängen dazu übergegangen, seine Kleider und Schuhe in unbeobachteten Momenten auszuziehen und in Bachläufe zu werfen, einer seiner Schuhe flog auch vom Gipfel eines nahen Berges. Oder vom fahrenden Rad aus in den Rinnstein. August 2009 sollte das Schlagen kommen.
    Wenn Simon schlug, dann mit hoch erhobenen Armen und voller Wucht in Richtung Kopf und Gesicht. Im Prinzip kannte ich das schon, jetzt aber passierte es gehäuft und mit einer Rückhaltlosigkeit, die einen erschrecken konnte. Normalerweise pflegte ich ihn dann an beiden Handgelenken festzuhalten und ihm zu sagen, dass ich ihm nicht erlauben könne, mir weh zu tun, und ihn festhalten werde, bis er sich wieder beruhigt habe. Mit aller Kraft im Haltegriff und so viel Ruhe in der Stimme wie möglich. Bis zu dem Tag, an dem Simon eine neue Idee hatte. Er neigte den Kopf vor und biss zu.
    Ich schrie auf und stieß ihn weg. Es hatte sehr weh getan, mehr noch, es war ein Schock. Mit zitternden Fingern raffte ich mein T-Shirt hoch und betrachtete die kleine blutende Wunde mit den Zahnabdrücken außenrum. »Du hast mich gebissen«, schrie ich reichlich hysterisch. Zum Glück hatten wir in dem Moment Besuch, der Simon von mir fern- und festhielt, bis ich mich beruhigt hatte. »Du hast mich geschlagen, du hast mich gebissen.« Die Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich fühlte mich wie ein misshandeltes Kind, todunglücklich und elend. An mir zitterte alles.
    Mit der Zeit bekam ich auch das in den Griff. Es hat keinen Zweck, sich seinen Emotionen zu überlassen. Wenn Simon in diesem Zustand ist, voller Wut, Pupillen geweitet und nicht er selbst, nützt nur halten und ruhig bleiben. Manchmal ist es sogar so, dass er selber schreit, man solle ihn halten. Er will einem nichts Böses, er ist nicht wirklich aggressiv, nur unkontrolliert. Es ist schwer, den Unterschied zu erklären. Aber er ist da.
    In den ersten Tagen allerdings tat ich mich mit der Ruhe schwer. Ich fragte mich, wie weit es mit mir gekommen war, betrachtete immer wieder die erste Wunde und kleinere, die dazugekommen waren, bis ich ihn so festhalten konnte, dass er mit seinen Zähnen an meinen Busen oder die Arme nicht mehr herankam. Meine autismusferne Umwelt zeigte sich entsetzt, die autismusaffinen Menschen blieben recht gelassen. Man empfahl mir einen Kursus für den Umgang mit »herausforderndem Verhalten«, in dem man lernt, den anderen sicher, aber respektvoll festzuhalten. Doch dafür war ich vorerst noch zu perplex. Ich wollte auch niemanden festhalten. Ich wollte einfach keine Aggression in meinem Leben.
    Zufällig war ich in dieser Zeit in einem Aufbaukurs für Gestütztes Kommunizieren und unterhielt mich mit einer anderen Mutter. Die sagte, ihre Tochter mache diese Wutanfälle derzeit auch durch. Es liege an der Pubertät. Und daran, dass die ältere Schwester gerade zum Studieren auszog. Die neue Situation, die Eifersucht, das Gefühl, zurückgelassen zu werden, alles käme zusammen. Was sie denn dagegen täte, fragte ich.
    Â»Mein Mann legt sich quer über ihre Beine, und ich schiebe ihr ein Geschirrtuch als Knebel in den Mund und halte die Arme, bis sie sich beruhigt hat«, war die lapidare Antwort der zarten Dame im Twinset.
    Ich dachte daran, dass ich

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