Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
war eine Autistenmutter. Wem hätte ich erzählen sollen, wie das war, mit Simon spazieren zu gehen und abzuwarten, bis er aus heiterem Himmel anfing zu schreien und sich die Kleider vom Leib zu reiÃen? Vielleicht, weil er einen Stein im Schuh hatte. Oder weil ein Gedanke ihn gestreift hatte. Oder weil er Pommes wollte; wer wusste das schon. Manchmal, fand ich, sah er in solchen Momenten aus wie ein Elfenkind, so nackt im Wald, manchmal hätte ich nur noch heulen können. Aber normal? Das war etwas ganz anderes. Und ich, ich war schon lange nicht mehr normal. Wenn ich an meinen Alltag dachte, kamen mir meine Computeraktivitäten einfach absurd vor.
Was ich mir wünschte, was ich brauchte, war jemand mit groÃem Herzen und offener Denkweise, jemand Ungewöhnliches, der improvisieren konnte, der Freude am Andersartigen hatte, der lebendig und nicht verspieÃert war, jemand, der etwas von Abgründen und Ãngsten verstand und sich nicht davor fürchtete. Der Fragen, wie: »Warum hat jemand in den Zahnputzbecher gepinkelt?« oder »Wer hat Ketchup in die Sahne gekippt« und »Wieso ist der Fünfeuroschein angefressen?« gar nicht erst stellt. Jemand, der akzeptiert, dass ich Friedhöfe liebe und Zombiefilme, immer für alle Tee koche und schon mal vom Hochhaus springen wollte und manchmal nett war und dann wieder extrem. Ich war und bin keine liebe Frau für einen lieben Mann, auch wenn ich auf viele so wirken mochte. Ich war nicht die lächelnde attraktive geschiedene Mittvierzigerin aus dem Netz, ich war eine Ruine, wenn auch mit einigen interessanten Ecken. Was ich suchte, war ein Ruinenliebhaber.
So etwas allerdings, fürchtete ich, gab es weder im Netz noch im richtigen Leben.
Gute Tage, schlechte Tage
Noch immer gab es genug Nächte, in denen Simon wenig schlief. Ich erinnere mich an Morgen, an denen ich vollkommen gerädert war. Ich erinnere mich an die eine Nacht, in der ich Simons Vater anrief, so gegen drei Uhr, und sagte, er solle ihn holen, ehe ich ihn aus dem Fenster würfe. Zum Glück blieb es bei dem einen Mal.
Mit Grausen denke ich zurück an die Versuche, Simon an sein eigenes Bett zu gewöhnen. Endlich war ich dem Rat einer Therapeutin gefolgt, die meinte, ich solle es in kleinen Schritten angehen. Also erst in seinem Bett neben ihm schlafen statt in meinem. Dann nur noch vor dem Bett sitzen und seine Hand halten. Dann sitzen ohne Köperkontakt. Dann langsam, Abend für Abend, von seinem Bett wegrücken. Es funktionierte erstaunlicherweise. Ich legte mir eine Turnmatte zu und verbrachte darauf meine Abende, erst direkt vor Simons Bett, schlieÃlich an der Tür seines Zimmers, endlich drauÃen auf dem Gang. Anfangs las ich, später schlief ich und wanderte, wenn ich nach ein oder zwei Stunden aufwachte, mit malträtiertem Rücken in mein eigenes Bett, wo Simon mich dann so gegen drei Uhr wieder aufsuchte.
Leider hatte das Verfahren nach einigen Wochen eine Grenze: Simon lieà mich vorerst nicht auÃerhalb seines Blickfeldes. Die Matte durfte ich bis auf den Flur rutschen, aber nur so weit, dass er mich noch sehen konnte. Wollte ich weiter weg und den Blickkontakt unmöglich machen, wehrte er sich. Ein Jahr lang blieb ich auf meiner Matte im Gang, mit dem Rücken an die Tür der Rumpelkammer gelehnt, gegenüber Simons Zimmer. Immerhin schlief er irgendwann vor mir ein und mir blieben danach kostbare freie Stunden. Jonathan hat viel dieser Gangzeit mit mir geteilt, manchmal taten es auch einige Freunde. Wir plauderten dort oben, ich schenkte Tee aus und dachte: Man muss ja nicht immer am Küchentisch hocken.
Mein persönlicher Tiefpunkt war ein Tag im August 2009. August ist ein katastrophaler Monat für Autisten: keine Schule, keine Tagesstätte, viele Betreuer und Freunde sind im Urlaub. Damit fällt alles weg, was sonst den Alltag zu strukturieren hilft. Die Tage werden lang, sie beginnen um sechs, enden erst gegen 22 Uhr, und dazwischen herrscht angespannte Langeweile. Allein kann Simon sich kaum beschäftigen, vom Betrachten seiner Lieblingsfilme und dem Spiel mit der Playstation einmal abgesehen. Beides lässt man ihn als verantwortungsvolle Mutter nicht allzu lang am Stück betreiben. Bleiben die Spaziergänge, bis zu vier am Tag, ich hatte am Ende extra einen Hund angeschafft, damit die Leute nicht mehr so guckten. Ganz half es nicht: »Sie führen das Tier aber oft aus«,
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