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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Aber wenn er allein unterwegs war, konnte es sein, dass Kleinigkeiten wie ein entgegenkommender Hund, ein Mensch mit Stock oder das Geräusch einer Säge hinter einer Hecke ihn irritierten und dazu brachten, vom Weg abzubiegen, nur weg von der Störung. Wenn er mal am Abbiegen war, konnte es sein, dass er wieder abbog, und wieder, einfach weil Abbiegen jetzt programmiert war. So konnte er zwar einerseits große Routen klar im Kopf haben, sich aber andererseits auf wenigen Metern hoffnungslos verfransen. Ich erklärte das, so gut ich konnte. Hilfreich war das nicht, weil es bedeutete, dass seine Bewegungen unkalkulierbar waren und er überall sein konnte.
    Endlich fanden wir sein Fahrrad, es lag zwei Kilometer entfernt von dem Punkt, an dem er verschwunden war auf einer Straße, die durch den Wald führte. In der Nähe waren ein Spielplatz und ein Walderlebniszentrum, das er kannte. Woraufhin Zivilstreifen das Waldstück und die Wanderwege durchkämmten. Kennen Sie diesen Satz aus den Fernsehnachrichten, wenn der Sprecher sagt, man habe das Rad des vermissten Kindes gefunden? Drei Tage später finden sie dann die Leiche in einer Kiesgrube, und im Monat drauf wird der nette Nachbar verhaftet, Vater von drei Kindern und Mitglied bei den Pfadfindern. Ein Mann, von dem niemand geahnt hatte, dass er pädophil war.
    Mein Sohn traf einen netten Spaziergänger, der ihn den Polizisten zuführte.
    Bei Simons zweitem Ausflug waren Hubschrauber unterwegs, um sicherzustellen, dass er nicht irgendwo im nahen Fluss lag. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, sie über den Bäumen fliegen zu hören. Ganz großes Kino sozusagen. Jonathan hatte das fragwürdige Vergnügen, alleine zu Hause zu sein, als Uniformierte klingelten und nach gebrauchter Wäsche seines Bruders fragten, für die Suchhunde. Gefunden wurde Simon schließlich von Wanderern, ein Dorf weiter. Die Freunde, mit denen wir unterwegs gewesen waren, hatten alle Spaziergänger, Jogger und Radler, die vorbeigekommen waren, angehalten und sie gebeten, die Nachricht über den vermissten Jungen weiterzutragen. So waren sie durch den halben Forst gewandert.
    Simon war fünf Kilometer weit gekommen, keine üble Leistung. Er war, während wir alle Verstecke und Gehölze durchstöbert hatten, einfach auf dem breitesten Waldweg immer geradeaus gelaufen, wie angezogen vom Horizont.
    Bei Simons letztem Ausflug, Anfang 2011, hatte meine Hysterie für eine Zusatzkomplikation gesorgt. Wir waren auf dem Weg zum Auto gewesen, als ich noch einmal umdrehte, um etwas aus der Wohnung zu holen, das ich vergessen hatte. Das dauerte keine Minute, außerdem wollten wir zu Simons Vater fahren, er freute sich schon auf den Besuch; ich hatte nicht im Traum gedacht, dass er sich verdrücken würde. Aber da stand ich, und der Garagenhof war leer.
    Weit konnte er nicht sein, ich entschied mich fürs Auto, um möglichst rasch die Siedlung abzufahren, in der wir lebten, darin hatte ich ja Routine. Als es langsam dunkel wurde, wechselte ich auf Schusters Rappen und checkte die Spazierwege im Wald. Ich hatte Jonathan mit auf die Suche geschickt, wir beide durchkämmten getrennt das Viertel und die angrenzenden Waldstücke, ich zu Fuß, er auf dem Roller. Nach einer Stunde gab ich auf. So würde ich ihn nie finden, es war inzwischen stockdunkel, ich stolperte nur noch über Wurzeln und trat in Pfützen. Ich konnte nichts mehr sehen, und auf Zuruf reagierte er nun einmal nicht. Ich hätte einen Meter an ihm vorbeigehen können, ohne ihn zu bemerken.
    Ich rief – mal wieder und mit gemischten Gefühlen – die Polizei. Langsam fragte ich mich, ob das nicht irgendwann teuer würde. Oder ob sie mir das Jugendheim auf den Hals hetzen würden, da ich so offensichtlich unfähig war. Aber was für eine Wahl hatte ich? Jetzt war er über eine Stunde fort. Er konnte inzwischen überall sein. Außerdem war es kalt.
    Ich machte mich auf den Rückweg, da die Beamten sich zuerst am Haus melden würden, wie immer. Inzwischen wusste ich auch, dass sie aktuelle Fotos wollten – ich hatte jetzt stets welche vorbereitet – und eventuell ein paar Wäschestücke. Wegen der Hunde, klar, wir hatten ja Übung. Per Handy gab ich Jonathan Bescheid. Der Ruf ging durch, aber er nicht richtig ran, ich hörte nur seine Stimme, die »Simon« rief, immer wieder »Simon«, dann Wasserplätschern,

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