Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
vierten Mal, den Morgen mitgerechnet, und ging zum Trampolin. Er sprang ausgelassen und akrobatisch, mit voller Energie. Ich betrachtete eine Hummel im Gaukelflug, schwer beladen mit Pollenpäckchen an beiden Seiten. Dazu sang ich die einzigen zwei Zeilen Tom Waits mit, die ich kannte. Simon verlangte die Wiederholung, wieder und wieder, eine halbe Stunde lang. Ich hoffe, die Nachbarn haben gut isolierte Fenster. Meine schwangere Katze schmiegte sich an mich und vergab mir. Die Hummel hatte Probleme mit dem Wind. Ich sang.
Sandra vom familienentlastenden Dienst kam und wurde von Simon zu einem Ausflug verschleppt. Dankbar sank ich vor meinen Computer. Im Wohnzimmer lag alles voller Füllsel aus dem Stoffball, den Simon zerkaut hatte. Der Topf mit den Milchreisresten wollte geschrubbt sein. Das Katzenklo quoll über. Meine Dessous warteten auf einen Waschgang. Da wäre auch Wäsche aufzuhängen. Ich ignorierte es und machte mir deshalb Vorwürfe. Abermals nicht genug.
Eine halbe Stunde schreiben, dann schlafen, aufgeweckt von meinem zurückkehrenden Sohn. Jonathan setzte sich an mein Bett, streichelte mich, lächelnd wie eine Mutter, die ihr krankes Kind tröstet, und sagte: »Schlafen ist doch das Schönste auf der Welt.« Ich meinte, das Zweit- oder Drittschönste, Liebhaben wäre noch besser und knuddelte ihn.
Simon war unruhig diesen Abend, und auf einmal brach es aus ihm heraus: »Frau Mustermann ist nicht nett.« Mustermann, das war seine erste Lehrerin gewesen, die ihn mit ihrer Ignoranz fast zerstört hätte. Diese Dame hatten wir vor zwei Tagen zufällig wiedergesehen, nur durchs Autofenster, keine Partei hatte Lust, die andere wahrzunehmen und grüÃen zu müssen. Simon war damals nichts anzumerken gewesen, er hatte nichts gesagt. Aber 36 Stunden später brach es aus ihm heraus.
Jonathan betrachtete Simons Im-Kreis-Laufen und meinte, so sei es gestern Abend bei Papa auch gewesen. Dort angekommen, habe Simon plötzlich geheult und sei gekreiselt, dann aber problemlos eingeschlafen. Ich erwiderte, dann wird es heute auch so sein. Jonathan ging zu Simon, kniete sich vor ihn und küsste ihn. Dann zog er ab, Computer spielen. Ich freute mich über seine Gelassenheit und bewahrte meine eigene.
Ich erklärte Simon, dass diese Frau verständnislos war und böse. Dass er nie wieder zu ihr zurückmüsse. Dass wir darauf achten würden, dass er künftig Menschen und Orte um sich haben werde, die ihn verstanden und schätzten. Trotzdem gab es Tränen und ein wenig Geschrei. Ich zog das Abendritual durch, damit er begriff, dass sich nichts änderte und er Halt an der Routine finden konnte. Im Bett dann fiel mir auf, wie seine Hände in die Luft griffen. Ich begann, die Finger einzeln fest zu umfassen und zu benennen. Darüber wurde er ruhiger. Ich formte seinen ganzen Körper so, mit festen Griffen. Etwas später verlangte er, nur noch leicht in den Handflächen gekitzelt zu werden, dann schlief er ein. Geschafft. Ich liebe ihn so sehr.
Jetzt ist es halb neun, Jonathan sitzt am Computer, und ich lasse ihn. Die »Matrix«-Lektion kann warten. Eventuell gucke ich »Snowcake«. Oder lese den »Gantenbein« an, für den Lesekreis, mal sehen.
Heute Morgen noch habe ich mich gefragt, wie ich es schaffen soll, die Verzweiflung, die in mir ist, so weit zu strecken, dass sie mich nicht überwältigt und ich durch die Tage komme. Ich habe mit meiner Mutter telefoniert, vielleicht war das die Wende. Ich habe ihr ehrlich gesagt, wie es mir geht, ohne Beschönigung, aber auch ohne Gejammer. Konnte meine kaputte Ehe bedauern, meine Fehlentscheidungen, meine Zukunftsangst formulieren und weinen, ohne zu verzweifeln. Sie hat es gut verstanden. Wir haben in Ruhe überlegt, was wird.
Sie ihrerseits hatte Angst davor, mal in einem Pflegeheim zu enden und so zu sterben wie ihre Mutter, über Jahre hinweg. Ich bot ihr an, mit ihnen zusammenzuziehen. Das hatte ich früher schon getan. Und zu meiner Freude fand sie es diesmal überlegenswert, gab zu, dass ihr der Gedanke gefalle. Ich täte es wirklich gerne, ich würde sie gern pflegen. Sie haben es wahrhaftig verdient. Obwohl wir nur über traurige Dinge sprachen, wurden wir, glaube ich, beide durch das Gespräch getröstet. Und wir fühlten uns einander sehr nahe. Danach hatte ich Kraft für alles Weitere.
9. und 10. 7. 2010
Endlich einmal ein paar gute
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