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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Sachkundeunterricht zu beantworten, Rechenaufgaben zu lösen und am Morgenkreis teilzunehmen. Es wurde offenkundig, dass er der Intelligenteste in seiner Klasse war, jemand, den die Lehrerin fragte, wenn sie eine gute Antwort brauchte, und das tat und tut seinem Selbstwertgefühl sehr gut.
    Sogar an einem Literaturwettbewerb nahm er teil, ausgerichtet von wortfinder e. V., der sich an behinderte Menschen wendete. Die Schule gab uns die Ausschreibung, Frau Kaarmann fragte, ob er mitmachen wolle, es gehe darum, einen Text zum Thema »Zeit« zu verfassen. Simon stimmte zu und schrieb zwei Gedichte: »Ich habe Zeit« und »Im Sommer«, die beide unter die Siegertexte aufgenommen und in einem Kalender abgedruckt wurden:
    Ich habe Zeit
Manchmal habe ich zeit und sofort alles zirkuliert in mir und es ist ein gutes gefuehl.
Gerne habe ich das gefuehl im magen.
Um die Zeit zu geniessen suche ich den bettbezug zu fuehlen und das ist ein richtig gutes gefuehl zum halten wenn er so gut riecht.
    Im Sommer
Wetter zum baden
Trinkst du viel wasser
Oje hast du zeit für mich?
Wenn aber
Nicht
Dann halte ich sie mit dir fest
Und wir toben durch den sommer
    Ich schicke, weil ich den Text eben in seinen Aufzeichnungen fand, noch eine Erstveröffentlichung hinterher:
    Herbstgedicht
Ein Wind weht stürmisch im wald
Er laesst seine taten zerstoererisch im wald zurueck
Die tiere haben angst und verstecken sich alle in hoehlen damit sie der wind nicht wegpustet
Waldbaeume bersten im sturm und werden alle zerbrochen und gehen einen totenweg zum restlichen leben.
    Immer wieder tippte Simon, er wolle in eine »richtige« Schule, ohne »Kindergeburtstag«, wie er die spielerischen Elemente bei der Lebenshilfe nannte. Wir gaben uns eine lange Bedenkzeit. Immerhin war Simon zwei Jahre zuvor noch eines der verhaltensauffälligsten Kinder im Förderzentrum gewesen, das wochenlang den größten Teil der Unterrichtszeit mit seiner Schulbegleiterin auf dem Flur saß, wo er um seine Fassung rang und darum, das Schreien zu unterdrücken. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis er es schaffte, ohne eine vertraute Person in den morgendlichen Schulbus zu steigen. Ebenso lange hatte er gebraucht, bis er in kleinen Schritten in der Tagesstätte heimisch wurde, wo Ausflüge und dergleichen noch immer ein Problem für ihn darstellen. »Ich möchte, dass du mich an der Hand hältst und mit beruhigender Stimme zu mir sprichst«, hatte er erst kürzlich seiner Schulbegleiterin getippt, die ihm nun an den Nachmittagen nicht mehr zur Seite stehen kann; der Bezirk finanziert eine Eins-zu-eins-Betreuung an Nachmittagen nur bei Gefahr von Selbst- oder Fremdgefährdung. Angst und Langeweile fallen nicht in diese Kategorie.
    Für den Augenblick lief alles rund, aber ganz schnell konnte Simon durch ein paar Neuerungen in seinen Abläufen wieder in die Krise getrieben werden. Die Erinnerung an die Zeit seiner Einschulung saß mir noch immer in den Knochen. Die Schulleitung gab zu bedenken, dass es wichtiger sein könnte, Simon eine Homebase zu verschaffen und die Chance, sozial dazuzulernen, als ihn intellektuell zu trimmen. Das könnte auch schiefgehen, sie hätten erst vor kurzem den Fall eines Kindes gehabt, das die neue Schulsituation seelisch nicht bewältigte und in eine schwere Depression verfiel.
    Dazu kamen praktische Erwägungen. Simon war quasi in der vierten Grundschulklasse, jedenfalls dem förderschulischen Pendant dazu. In der Vierten ging es im normalen Schulleben dort draußen um den Übertritt ans Gymnasium. War es ratsam, gerade in dieser angespannten Lage den Klassen, Lehrern und Eltern ein Kind mit erhöhtem Förderbedarf anzudienen? Wir entschieden uns dagegen und warteten ab.
    Mit dem Übertritt in die fünfte Klasse allerdings änderten sich für Simon die Bedingungen. Er kam in die sogenannte Hauptschulstufe. Das hieß für ihn: neues Klassenzimmer, neuer Lehrer, neue Mitschüler, neue Regeln. Ab jetzt wurde die Pause draußen abgehalten statt in der behüteten Schulküche, und das Mittagessen gab es in der lauten, stimmenerfüllten Mensa.
    All das hätte schon genügt, ihn in Aufruhr zu versetzen. Außerdem landete er in einer Klasse mit zwei bis drei Jahre älteren Jungs, die sich mitten in der Pubertät befanden. Um Stoffvermittlung ging es in den ersten Wochen mit dieser Gruppe kaum, dafür um Autorität, Struktur, Gruppendynamik

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