Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
und andere Themen, die Simon überhaupt nicht realisierte. Er sehnte sich nach intellektuellem Futter, während der Lehrer damit beschäftigt war, seine laute Bande irgendwie in Griff zu bekommen und die Praktikantin davor zu bewahren, sexuell belästigt zu werden. Lärm, Durcheinander und Aggression â das alles war überhaupt nichts für Simon. Dauernd verlangte er auf die Toilette, seine Standardstrategie, um sich unliebsamen Situationen zu entziehen, und sehr erfolgreich, da man ihm den Wunsch ja nicht gut abschlagen kann. Frau Kaarmann tat ihr Möglichstes, seine Verweildauer im Klassenzimmer von fünf auf zehn und schlieÃlich fünfzehn Minuten zu erhöhen. Aber dort fand ja nichts statt, was Simon gereizt oder gutgetan hätte. Also wurde auch er aggressiv und fing an, sie zu schlagen. »Yes, hit her«, grölte dazu sein Banknachbar, ein Riese von vierzehn Jahren und einem Meter siebzig, ausgestattet mit einer ausgeprägten Neigung zur Provokation. Frau Kaarmann befand, wir sollten den Ãbergang in eine neue Schule beschleunigen.
In der Tagesstätte standen FuÃball und Aikido auf dem Stundenplan, lauter Dinge, die Simon aufgrund seiner Behinderung gar nicht ausüben kann, ihm fehlen die koordinatorischen Möglichkeiten und für jede Form von sich dynamisch entwickelnden Gruppenspielen der Ãberblick. FuÃball könnte er nur spielen, wenn man ihn permanent an der Hand hielte, mit ihm mitrennen und dazu dauernd kommandieren würde, was er als Nächstes zu tun hätte. Dann täte er vermutlich eine Weile mit, ohne den geringsten Schimmer, warum er erst dies und dann plötzlich jenes tun sollte und wozu dieses sinnlose, abrupt die Richtung wechselnde Rumgerenne gut war; das ging ja alles viel zu schnell für ihn.
Rasch zeichnete sich ab, dass Simon hier einfach nicht mehr hingehörte. Respekt vor der Leistung der Lehrer und Erzieher, die sich dieser Aufgabe stellten, die Gruppe war nicht einfach. Für meinen Sohn aber konnten sie in diesem Kontext wenig tun. Wieder einmal, nach drei lauschigen Jahren, in denen wir eine Heimat gehabt hatten, eine zuverlässige, vorhersehbare, vertraute Umgebung für Simon, waren wir heimatlos.
Entsprechend wuchs die Unruhe. Simon schlief nicht mehr, saà nächtelang in seinem Schaukelstuhl, spielte an seinem Penis herum und brüllte mit furchterregend tiefer Stimme. Er hasste seine alte Schule und fürchtete sich vor der neuen, die wir für ihn ins Auge gefasst hatten.
Wir â Frau Kaarmann, Simons Ergotherapeutin, der Vertrauenslehrer für Schüler mit Autismus aus Erlangen und Simons bisherige Lehrer â planten, Simon in der Fünften teilweise auf dem Gymnasium zu beschulen. Es war wie gesagt ein Experiment mit offenem Ausgang. In ganz Bayern gab es zu der Zeit nur zwei nichtsprechende Autisten, die ein Gymnasium besuchten, so hatte man mir gesagt. Simon würde einer davon sein. Das machte mich einerseits natürlich stolz. Andererseits wäre ich ganz zufrieden damit gewesen, wenn wir nicht gar so Avantgarde gewesen wären und es einen gebahnten Weg gegeben hätte, dem wir folgen könnten. Aber den gab es nicht. Die Schulkarrieren von Autisten verlaufen bunt und oft desaströs, eben weil bei ihnen die Schere zwischen intellektuellem Vermögen und Verhalten so weit auseinanderklafft.
Ich war ja auch nicht sicher, ob ein Kind geeignet für das bayerische Gymnasium war, das einerseits fünfstellige Zahlen im Kopf dividierte, andererseits durchaus mal ohne Hosen vom Klo zurückkehren konnte. Aber eine Schule, die für beides sorgte, Bildungsinput auf hohem Niveau und saubere Hintern, gab es nun einmal nicht.
Ich hatte eine Flaschenpost ins Netz geworfen, Simons Lage und Vermögen geschildert und die Schule skizziert, die wir suchten: ein Internat mit der Möglichkeit, das Abitur zu machen, in dem die Kinder in heilpädagogischen Kleingruppen leben und eine 1 : 1-Betreuung möglich ist. Die Nachrichten tröpfelten spärlich â nichtsprechend und intelligent und dazu so überaus ängstlich ist eben doch selten. Einer der Antwortenden teilte mir mit, dass man bislang von sechs Autisten wisse, die mittels Gestützter Kommunikation bis zum Abitur gelangt seien. Ãber zwei davon, ein Zwillingspaar, Kornelius und Konstantin Keulen, gibt es ein Buch und einen Fernsehfilm. So prominent wollten wir mit unserer Entscheidung gar nicht sein.
Wir
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