Ich liebe mich
vor. Zum Ersten-Feiertag-Mittagessen. Alle waren nett zu allen. Stephanie hatte zehn Stunden geschlafen und fiel neben der blaßblonden Schwägerin in spe nicht wesentlich auf. Sie widmete sich ihr herzlich und taktvoll. Der Vater versuchte sich indessen als Adoptivgroßvater. Aber die blaßblonden Kleinen gingen auf seine Späße nicht ein. Vielleicht hatte die Mutter ihnen auch eingeschärft, sich ruhig zu verhalten. Nicht auszudenken, Stephanie hätte ein so farbloses Kind geboren.
Er redete sich zu: Schau hin, das sind deine Erben! Sie bekommen dein Lebenswerk. Für diese Mehlwürmer hast du dich geplagt, für diese Fehlfarben der Liebe! Die Mutter macht einen guten Eindruck, sehr hübsche Hände, gute Augen, erinnert mich an jemand. Aber eine Frau mit Kind... mit zwei Kindern, wie kann der Junge sich das antun!
Im Familiengespräch zu dritt, während Golo den zukünftigen Seinen das Haus zeigt, sorgt Stephanie für Unernst. Vielleicht aus Abwehr gegen alles, was mit Kindern zusammenhängt. Sei dieses schmale Wesen, das obendrein Mami ähnlich sehe, nun eine verwitwete, eine ledige oder eine geschiedene Braut? Von einem Verschiedenen geschieden, oder von verschiedenen Verschiedenen geschieden?
»Findest du auch, daß sie mir ähnlich sieht?« fragt seine Frau.
»Ja Liebes, da muß ich Stephanie recht geben. Der Schnitt des Gesichts, die Nase... Ansonsten fehlt ihr natürlich vieles.«
Sie geht nicht darauf ein, verfolgt einen anderen Gedanken.
»Wenn mein Sohn eine ältere Frau heiraten will, die Ähnlichkeit mit mir hat, dann müssen wir uns fragen, ob wir in unserer Erziehung etwas falsch gemacht haben.«
Darüber kommt es zum Gespräch. Die Ehepartner erinnern sich, greifen Ereignisse auf, Familienereignisse, versetzen sich zurück, was sie heiter stimmt, weil sie sich jünger fühlen. Wie damals. Er genießt es, zu Hause zu sein: Ein erster Weihnachtsfeiertag, wie er sein soll. Sie stimmt seinen psychologischen Spitzfindigkeiten zu. Übereinstimmung hat das Gespräch beendet. Woher sie das alles wisse, wundert er sich.
Sein >Liebes< lächelt.
»Ich kenne jemanden, der sehr viel von Psychologie versteht, sehr viel. Mit ihm unterhalte ich mich gelegentlich. Recht oft sogar. Nicht, um mir dieses oder jenes von der Seele zu reden oder mir die Ehe führen zu lassen, nein, nur informativ. Psychologie hat etwas Faszinierendes für mich. Und ist eine Hilfe. Man lernt mit sich umzugehen. Oft genügt eine kleine Wendung in der Einstellung, und was vorher ein Problem war, löst sich auf. Die Menschen nehmen sich viel zu wichtig.«
Er schweigt, wundert sich über seine Frau, beneidet sie um ihre Gelassenheit. Sie holt sich Kraft. Und er weiß nicht, von wem. Wer kann das sein? Paul ist es nicht. Er befaßt sich nicht mit Psychologie. Oder doch? Er könnte sie fragen.
Aber er läßt es.
In unregelmäßigen Abständen erlebt der Bürger die Elite des Landes auf dem Fernsehschirm, wie sie vollzählig und herausgeputzt einem gesellschaftlichen Ereignis beiwohnt. Das zehrt am Selbstgefühl des gehobenen Mittelstands. Die Gedanken tanzen Linkswalzer. Dabei ist die beneidete Elite nicht zu beneiden. Gala ist für sie Dienst. Nach Begrüßungsrunde, Arm in Arm, hat er seine Frau auf einem Damensofa zum »small talk« ausgesetzt. Mit Glas und halbgefrorenem Lächeln macht er sich auf zur nächsten Runde, tritt hinzu, weicht aus, scherzt mit dem Ministerpräsidenten, läßt sich beim Händedruck mit dem Erzbischof von der Kamera überraschen, stößt vor einem Fotoreporter mit dem Wehrkreiskommandanten an, lächelt mit Gewerkschaftlern und Bürgermeister, ohne den keineswegs zufällig in der Stadt weilenden Industriekaiser aus dem Auge zu verlieren. Noch vor Mitternacht hat er alles besprochen, Weichen gestellt, Tips verteilt und empfangen.
Es ist schön, wieder auf dem Industrieklavier zu klimpern und einen Menschen zu haben, der das versteht, denkt er, während Alois sie über die Prinzregentenstraße bewegt, und drückt, dem Schicksal dankbar, die Hand seiner Frau.
»Gern geschehen!« sagt sie, daß er überlegen muß, was sie meint.
»Sag mal, Liebes, wolltest du nicht wegfahren?«
»Gelegentlich. Wir haben noch ein paar Verpflichtungen. Auf Faschingsbälle würde ich diesmal allerdings gerne verzichten.«
»Ich auch. Nett, daß man mit dir reden kann.«
»Warum sollte man nicht mit mir reden können?«
»Da hast du auch wieder recht.«
Mit der Ausbeute von zwei Händedrücken und einem Kuß auf die Wange
Weitere Kostenlose Bücher