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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Preise: Der eine wollte immer billig verkaufen und der andere möglichst teuer einkaufen. Also warfen sie die Ware hin und her, bis sie hinter dem Sofa landete und auf geheimnisvolle Weise verschwunden blieb. Das hat aber Andrej und mich keine Sekunde lang traurig gemacht. Mit den restlichen zwei Klötzen spielten wir weiter, den Zweiten Weltkrieg beispielsweise. Ein Klotz war der Faschist, ein anderer der Rotarmist, der Letztere gewann jede Schlacht. Der Naziklotz flog nur so durch die Wohnung, einmal fiel er vom Balkon. Wir haben ihn gesucht, aber nicht sehr lange.
    Wenn mein Sohn heute Lust auf Kriegsspiele hat, geht er in seine Waffenkammer. Bis er alle seine Schilder, Helme, Schwerter und Wasserpistolen zusammenhat, ist Moskau längst vom Feind besetzt. Sebastian ist trotzdem davon überzeugt, dass man für jeden Gegner eine spezielle Waffe braucht, das heißt dass man einen roten Drachen nur mit einem weißen Schwert besiegen kann und Spiderman stets vom Hubschrauber aus erledigt werden muss. Diese ewige Suche nach dem jeweils passenden Kriegsgerät zermürbt seinen Kampfgeist.
    Wir haben damals nach dem endgültigen Verlust unseres Naziklotzes mit dem letzten übrig gebliebenen Krankenhaus gespielt. Andrej und ich waren die Ärzte, der verspielte Hund der Nachbarin war der Patient, und der Klotz war die heilende Tablette gegen alles. Der Hund wollte sich jedoch nicht freiwillig heilen lassen. Wir versuchten es zuerst mit Gewalt, wickelten dann aber, wie kluge Ärzte es immer tun, die Pille in eine Wurstpelle. Der blöde Hund verschlang den Klotz und wurde sofort kerngesund. Wir dagegen hatten nun gar kein Spielzeug mehr und wurden prompt erwachsen. Wenn meine Kinder heute Krankenhaus spielen, dann haben sie für jeden Patienten eine eigene Spritze – eine für die Katze Marfa, eine blaue und eine rosa für ihre Eltern und eine ganz große für den Opa, weil der sonst überhaupt nicht reagiert.

Sankt Martin
    Als wir aus unserem materialistischen Vaterland in das romantische Deutschland auswanderten, hatten wir keine Ahnung von den hiesigen religiösen Sitten und Festen. Jedes Jahr im November zogen große Kindergartengruppen und Grundschulabsolventen in Begleitung ihrer Eltern mit brennenden Laternen singend an unseren Fenstern vorbei. Der Umzug endete jedes Mal an einem Kinderspielplatz, wo die Erwachsenen dann Würste aßen und Glühwein tranken, während die Kinder ihre Laternen auseinander nahmen, um zu gucken, wie sie funktionieren.
    »Bald ist Sankt Martin«, hieß es Anfang November im Kindergarten, also mussten die Kinder Laternen basteln und die Eltern Würste einkaufen. Wer dieser Sankt Martin eigentlich war, fragten wir nicht. Wahrscheinlich ein Prediger, der sich für das Laternetragen und Würsteessen schon im Mittelalter eingesetzt hatte. Seine Botschaft wurde offensichtlich von der Menschheit mit Begeisterung aufgenommen und er selbst heilig gesprochen. Die wahre Geschichte von Sankt Martin erfuhren wir erst Jahre später, als unsere Tochter in die Schule ging. Dort, in der ersten Klasse, besuchte sie fakultativ den Religionsunterricht. In unserer materialistischen Schule hatte es so etwas nicht gegeben. Fakultativ hatten wir nur Werkunterricht: Die Jungs quälten dort eine alte Bohrmaschine und versuchten, sich gegen Wetten Löcher in die Finger zu bohren. Die Mädchen lernten derweil das Stricken. Im romantischen Deutschland wurden stattdessen fakultativ Märchen erzählt.
    »Sankt Martin war ein Soldat!«, verkündete Nicole zu Hause. »Einmal ging er mit anderen Soldaten vom Krieg zurück.
    ›Na, Martin?‹, fragten ihn die anderen, ›freust du dich denn nicht, dass du so gesund bist und nicht gestorben?‹
    Aber Martin sagte: ›Seid still! Ich höre Stimmen!‹
    Und das war die Stimme eines armen Mannes, der ganz blau war vor Kälte. Martin gab ihm ein Stück Brot und dachte, wie soll er essen, wenn er so blau ist? Dann hat Martin ein großes Stück seines Mantels abgeschnitten und dem armen Mann gegeben. Und nachts träumte er von Gott, wobei er selbst natürlich nicht wusste, dass das Gott war. Da kam einfach ein Mann in seinem Traum, er hatte Martins Mantel an und sagte: ›Ich bin Gott!‹
    ›Wie, du bist Gott und hast meinen Mantel?‹, wunderte sich Martin.
    ›Weil nämlich‹, sagte Gott, ›alles, was du den Armen gibst, bekomme eigentlich ich.‹
    ›Wie alles?‹, wunderte sich Martin.
    ›Na, fast alles‹, sagte Gott, ›fast alles bekomme ich. Und wenn du mehr wissen

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