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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Privatsphäre zu tangieren. Mein Vater dagegen freut sich jedes Mal, wenn er bei einer Lesung seinen Namen hört. Das halte ich für eine angemessene menschliche Reaktion. Er freut sich, obwohl er fast kein Deutsch versteht und ihm alle Geschichten, die ich über ihn geschrieben habe, eher schnuppe sind.
    Über meine Tante habe ich eigentlich nur eine einzige Geschichte geschrieben. Sie hieß »Meine Tante auf der Schönhauser Allee« und war absolut harmlos. Doch sie meinte, ihr Leben hätte sich durch diese Geschichte abrupt verändert. Ihre Nachbarn begrüßten sie nun auf der Treppe und fragten sie über ihr Leben aus. Ihre Mitschüler auf der Sprachschule, die meine Tante seit acht Jahren besucht, hätten sich früher nie für ihre Gesundheit interessiert, jetzt aber würden sie sich stets erkundigen, wie es ihr ginge. Auch der Lehrer würde jedes Mal schmunzeln, wenn er sie sähe. Sogar ihre Zahnärztin hätte neulich irgendwie komisch geguckt, als meine Tante zu ihr kam.
    Ich bezweifelte das. »Woher sollen all diese Menschen wissen, dass du meine einzige Tante bist, beziehungsweise die aus der Geschichte? Außerdem habe ich dich doch im Buch verfremdet und Schönhauser Allee statt Kreuzberg als Wohnort angegeben!«
    »Das hat überhaupt nichts zu sagen, sie alle wissen, dass ich aus Odessa nach Düsseldorf und später nach Berlin gezogen bin. Wenn du noch ein weiteres Wort über mich schreibst, werde ich dich verklagen«, meinte sie.
    Meinen großen Tantenroman kann ich nun vergessen. Dabei hätte ich so viel über meine Tante zu erzählen. Als Kind wurde ich jeden Sommer von meinen Eltern zu ihr nach Odessa geschickt. Dort, am Schwarzen Meer, sollte ich meine Schulferien verbringen. Meine Lieblingsbeschäftigung war aber nicht, mich an den Strand zu legen, sondern meine Tante zur Arbeit zu begleiten. Sie saß in einem städtischen Architekturbüro und fertigte Kanalisationsentwürfe an – zwanzig Jahre lang. Diese Beschäftigung war nicht besonders anstrengend. Mit ungefähr zwanzig weiteren Kolleginnen saß sie jeden Tag acht Stunden vor einem Reißbrett. Die Frauen tranken Tee, lasen Zeitungen und plauderten über ihr Privatleben. Auf jedem Reißbrett war ein großes Blatt mit komplizierten technischen Zeichnungen befestigt.
    Bei meinem ersten Besuch zeichnete ich aus Spaß mit einem scharfen Bleistift einen kleinen Totenkopf mit Datum auf ihren Entwurf. Meine Tante merkte nichts. Im nächsten Sommer, als ich wieder nach Odessa kam und ins Büro meiner Tante ging, war der Totenkopf immer noch da. Und auch noch beim nächsten Mal. Erst nach drei Jahren offenbarte ich meiner Tante das Geheimnis. Meine Tante lachte nur darüber. Die staatliche Kanalisation funktionierte aber trotzdem anstandslos. So gewann ich meine ersten Erkenntnisse über die sozialistische Marktwirtschaft: Je weniger man an ihr herumbastelte, desto besser funktionierte sie!
    Doch auch darüber darf ich nicht mehr schreiben. Also kein Wort mehr über meine Tante.

Früher war alles besser
    Beim Fegen des Kinderzimmers und Aufsammeln der unzähligen Spielzeugteile – den ganzen zerstreuten Barbies und Kens mit herausgedrehten Händen und Füßen, den Gummidrachen mit abgekauten Schwänzen und dem kopflosen Spiderman – denke ich oft darüber nach, was dieser bunte, immer größer werdende Haufen eigentlich soll. Er soll doch wohl den Kindern ein Modell der großen Welt in ihrer ganzen Vielfalt bieten, damit sie spielerisch diese Welt kennen lernen und schneller und besser erwachsen werden. In Wirklichkeit aber hält dieser Haufen die Kinder vom Erwachsenwerden nur ab. Sie müssen erst einmal mit diesem ganzen Zeug fertig werden, und das ist weiß Gott nicht leicht.
    Wir hatten dieses Problem nicht. Mein früherer Spielkamerad aus der Wohnung gegenüber, Andrej, und ich hatten nicht viel Zeug zum Spielen. Außer ein paar original russischen Plüschtieren besaßen wir nur drei Bauklötze. Damit konnten wir aber die unterschiedlichsten Dinge anstellen. Zum Beispiel spielten wir gerne Lebensmittelgeschäft: Der Verkäufer war ein Klotz, der Käufer war ein Klotz, und die Ware war auch ein Klotz. Es funktionierte gut, und wirkte absolut authentisch und realitätsnah. Heute braucht meine Tochter für dasselbe Spiel eine piepsende Minikasse und ganz viel Wechselgeld, vom teuren Personal ganz zu schweigen.
    Unsere zwei sozialistischen Figuren – der Klotz-Verkäufer und der Klotz-Käufer – hatten sich ständig gestritten, meistens wegen der

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