Ich mach mir Sorgen, Mama
Fluss gekrabbelt und hatte versucht, mit seiner Schere die Bierflasche meines Vaters zu öffnen. Die Flasche hatten seine Kollegen im Ufersand vergraben, um sie kühl zu halten. Wahrscheinlich wollte der Krebs nur die Kraft seiner Schere ausprobieren – dabei fiel er meinem Vater zum Opfer. Und nun lag er bei uns zu Hause auf dem Küchentisch und bewegte sich nicht von der Stelle. Mein Vater strahlte und war auf seine Beute sehr stolz.
»Soll ich ihn dir zu Mittag zubereiten?«, fragte meine Mutter.
»Um Gottes willen«, erschreckte sich mein Vater, »ich werde ihn präparieren und zur Erinnerung aufbewahren.«
Der Krebs sollte zu einer Familienreliquie werden und einen Ehrenplatz auf dem Bücherregal neben Opa Hemingway einnehmen. Mein Vater telefonierte daraufhin mit einem Freund, der im Krankenhaus als Techniker arbeitete, und fragte ihn, wie man einen Krebs am besten präpariert.
»Man muss ihn in Spiritus einlegen, damit er nicht verfault«, meinte der Spezialist. »Nach ein paar Tagen holst du ihn wieder raus, nimmst einen Pinsel und bestreichst ihn mit Lack. Zum Beispiel mit farblosem Nagellack. Frag deine Frau, ob sie so etwas hat.«
Wir hatten immer eine Menge Spiritus im Küchenschrank. Jeden Monat brachte mein Vater ein volles Drei-Liter-Glas von der Arbeit nach Hause. In seinem Betrieb standen in jeder Werkhalle riesengroße Kanister mit Spiritus herum, das Zeug wurde für technische Zwecke und gleichzeitig zur Aufmunterung der Brigaden benutzt.
Mein Vater legte den Flusskrebs mit dem Kopf nach unten in ein Glas und übergoss ihn mit Spiritus. Zwei Tage steckte der Krebs im Glas. Dann holte ihn mein Vater heraus, nahm den farblosen Nagellack meiner Mutter, eine kleine Bürste und bemalte ihn von allen Seiten. Die fertige Reliquie legte er zum Trocknen auf eine Zeitung in der Küche. Glücklich und zufrieden ging er erst einmal Bier holen. Als er zurückkam, war der Krebs verschwunden. Die ganze Familie durchsuchte die Wohnung, wir folgten den Lackspuren auf dem Boden und fanden ihn schließlich unter dem Sofa im Gästezimmer.
Es war ein wahres Wunder – der lackierte Krebs lebte. Er lebte und war allem Anschein nach noch stockbesoffen dazu. Auf alle Fälle erwies sich das Schalentier als unglaublich zählebig. Nach dem zweitägigen Spiritusbad hatte er zudem alle Hemmungen verloren und konnte sich nun auf einmal nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts bewegen und sogar zur Seite springen. Das alles tat er auch, und zwar viel schneller, als man bei Krebsen vermuten würde. Er ließ sich einfach nicht fangen, sprang unter dem Sofa hin und her und machte dabei komische Geräusche. Meine Mutter meinte, die gequälte Kreatur wolle uns damit sagen, wir sollen sie in Ruhe lassen, ich war jedoch der Meinung, dass sie einfach nur rülpste.
Mein Vater jagte den Krebs durch die ganze Wohnung, und er kroch mit einem Besen bewaffnet unter alle Möbel. Das betrunkene Tier erwies sich aber als sehr schlau und stellte seinem Verfolger ständig neue Fallen. Permanent knallte mein Vater mit dem Kopf gegen verschiedene Möbelstücke, einmal blieb er sogar unter dem Sofa stecken und beschimpfte den Krebs fürchterlich. Uns schien es, als würde das Tier unseren Haupternährer durch die Wohnung jagen. Meine Mutter und ich schlossen Wetten ab, wie lange mein Vater gegen den Krebs aushalten würde. Doch schon nach ungefähr einer Stunde siegte die rohe Gewalt über den Intellekt, und mein Vater hatte seinen Krebs wieder im Glas.
Diesmal ließ er ihn zur Sicherheit eine ganze Woche lang in Spiritus baden und bemalte ihn danach dreimal hintereinander mit dem Nagellack meiner Mutter. Diese Operation hatte Erfolg. Der Krebs bewegte sich nicht mehr und bekam dann den ehrenvollen Platz auf dem Hausaltar der Erinnerungen. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, warf ich als Erstes einen Blick auf das Regal. Lange Zeit hatte ich die Hoffnung, dass unser Freund vielleicht doch noch am Leben war und eines Tages in die große weite Welt abhauen würde, vielleicht sogar mit Hemingway zusammen – in Richtung Arktis.
Das passierte jedoch nicht. Im Gegenteil: Nach einer Weile fing es bei uns in der Wohnung an zu stinken. Der Geruch kam eindeutig vom Bücherregal, mein Vater wollte es allerdings nicht wahrhaben. Er konnte einfach nicht glauben, dass seine Einbalsamierungsmethode falsch gewesen war.
»Nein, nein, das ist bestimmt nicht der Krebs«, sagte er jedes Mal, wenn wir uns über den ekelhaften Geruch
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