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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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willst, dann geh sofort zum Religionsunterricht.‹
    Martin ging zum Religionsunterricht und lernte so gut, dass die anderen ihn zum Chef machen wollten. Er aber sagte: ›Nein, nein, nein! Lieber nicht!‹, und versteckte sich im Gänsestall. Alle haben nach ihm gesucht und riefen: ›Hallo, Martin, komm raus‹, konnten ihn aber nirgends finden. Plötzlich fingen die Gänse an zu schnattern.
    ›Okay, okay‹, sagte Martin, und so wurde er Chef vom Religionsunterricht«, erzählte uns Nicole.
    Fünfmal haben wir uns inzwischen die Geschichte angehört und wissen bestens Bescheid. Unklar bleibt jedoch, wie der Chef vom Religionsunterricht auf die Idee mit den Laternen, Würsten und dem Glühwein kam. Wahrscheinlich wird das erst in der zweiten Klasse erzählt.

Was taugen junge Weihnachtsmänner von heute gegen das alte
Väterchen Frost?
    Ob Väterchen Frost und der Weihnachtsmann verwandt beziehungsweise zwei unterschiedliche Leute seien, fragten mich meine Kinder neulich. Auf diese Frage hatte ich keine einfache Antwort parat. Soweit ich mich erinnern konnte, war das Väterchen – oder auf gut Russisch »Opa Frost« – trinkfester als sein europäischer Kollege. In der Sowjetunion schaute er zusammen mit seiner Freundin Schneeflöckchen einmal im Jahr bei uns vorbei, nämlich am Abend des einunddreißigsten Dezember. Die beiden waren vom Betrieb meines Vaters beauftragt, allen Mitarbeitern, die Kinder hatten, einen Besuch abzustatten und eine Tüte mit Schokolade und anderen Süßigkeiten zu überreichen. Außerdem musste Opa Frost einen auf das Wohl der Familie trinken. Das Schneeflöckchen hatte die Aufgabe, auf Opa Frost aufzupassen, damit er gerade stand und nicht herumtorkelte. Als Erstes besuchten die beiden die Familie des Direktors, dann seines Stellvertreters, anschließend die des Buchhalters und schließlich die Familie des Leiters der Parteizelle. Mein Vater war als Stellvertretender Leiter der Abteilung Planwesen ein ziemlich wichtiger Mann im Betrieb. Unsere Familie stand also auch ganz oben auf der Liste von Opa Frost, auf jeden Fall unter den ersten zwanzig Adressen. Trotzdem konnte er bei uns schon kaum noch sprechen. Wir wohnten im fünften Stock in einem Haus ohne Fahrstuhl, und man hörte Opa Frost schon im Treppenhaus fluchen, wie er mit seinem Sack gegen die eine oder die andere Tür knallte.
    »Na, Boris, geht’s noch?«, fragte ihn mein Vater.
    Opa Frost hatte eine Plastiknase ohne Nasenlöcher, sein Bart war schräg um den Hals gewickelt, ein Teil davon steckte in seinem Mund.
    »Viel Freude für Ihre Familie«, flötete Schneeflöckchen bei ihrer Ankunft.
    »Ich glaube, ich muss mich erst mal setzen«, sagte Opa Frost und nahm im Korridor auf unserem Schuhschrank Platz. Das Herumsitzen in der warmen Wohnung tat Opa Frost aber nicht gut. Er sprang auf und rief: »Wo ist das Kind?«
    Meine Eltern schoben mich nach vorne.
    »Na du, Junge, wie heißt du? Sehr gut, Wladimir. Hier ist etwas zum Knabbern für dich!«
    Opa Frost übergab mir eine zerknitterte Tüte aus seinem halb leeren Sack, trank mit meinem Vater im Stehen einen Wodka, rülpste, drehte sich um und lief die Treppe wieder runter. Schneeflöckchen hinter ihm her.
    »Nicht so schnell, Boris, ich möchte nicht, dass wir wieder im Krankenhaus landen wie letztes Jahr«, schrie sie.
    »Scheiß drauf, die Kinder warten«, röchelte Opa Frost.
    Ich hielt ihn damals für einen Beamten, einen weiteren Diener des Staates, der wie die Polizisten auf der Straße oder die Lehrer in der Schule zwar unangenehm, aber unvermeidlich war.
    Hier in Europa ist alles viel komplizierter organisiert. Im Dezember sind hier gleich mehrere Männer mit Säcken unterwegs. In Holland zum Beispiel sind es drei: Am fünften Dezember wird der Sinterklaas zusammen mit dem Zwarten Piet, dem Schwarzen Mann, erwartet. Letzterer spielt die Rolle des Schneeflöckchens. Früher mussten sich die holländischen Pieter ihr Gesicht extra mit Ruß einschmieren, um realistisch zu wirken; seitdem sie viele Mitbürger aus Surinam haben, ist das jedoch nicht mehr nötig. Beide kommen laut der Legende aus Madrid, sie sammeln Stroh und Mohrrüben für ihre Rentiere, und der Zwarte Piet wirft den artigen Kindern die Geschenke durch den Kamin. Die unartigen Kinder werden dafür zur Bestrafung nach Madrid verschleppt. Ihre Eltern ziehen dann freiwillig nach. Zu Weihnachten kommt noch der Weihnachtsmann, Santa Claus, der aber in Holland keine Geschenke verteilt und nur so durch

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