Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
zu.
»Ah, verstehe«, erklärt meine Schwester befriedigt.
»Gloria, jetzt hör endlich auf mit deinem ›ah, verstehe‹«, ermahne ich sie aus Spaß. »Sag lieber so was wie ›ach, dann sind sie aber voll krass uncool‹.«
»Und was bedeutet das?«, fragt sie mich.
»Luca, bring deiner Schwester nicht solche Dinge bei«, ermahnt mich meine Mutter, während die Stimmung am Tisch allmählich lockerer wird.
Nach der kalten Vorspeise bringt meine Mutter eine Auflaufform Lasagne mit Artischocken, eine Spezialität von ihr, und außerdem unser klassisches Essen für den 24. Dezember.
Dalila langt beherzt zu und versucht, höflich zu meiner Mutter zu sein, die ihr die üblichen Fragen stellt, über die Schule, wo sie in den Ferien schon überall gewesen ist, wie ihre Band heißt, wie es ihr in San Francisco gefällt und so weiter.
Als wir mit dem ersten Gang fertig sind, steht meine Mutter auf, um die Teller einzusammeln, und Dalila setzt sich über ihren Protest »Nein, meine Liebe, das ist doch nicht nötig« hinweg und hilft ihr dabei.
Nun sieht mein Vater mich verwirrt an.
»Ist sie deine neue Freundin?«, fragt er mich ungewohnt direkt und anscheinend völlig wertfrei, ganz anders als früher. Es ist, als hätte die lange Trennung unseren Umgang miteinander entspannt und die Schärfe aus unseren Wortgefechten genommen.
»Mal sehen, ich denke darüber nach.«
»Meinst du das ernst?«
»Aber nein, ich weiß nicht, sehen wir mal, wie sie mit Mama auskommt, und dann können wir ja alle gemeinsam darüber abstimmen.«
»Du bist doch wirklich albern … Und Alice?«
Nach der letzten Frage meines Vaters kann ich allerdings nicht mehr mit diesem leichten unbekümmerten Ton weitermachen. Genau, was ist mit Alice? Zum Glück klingelt in dem Moment mein Handy. Ich frage mich, wer mich um diese Zeit an Heiligabend anruft.
Es ist Mary.
»Mary!«, rufe ich ein bisschen verblüfft. »Frohe Weihnachten.«
»Luca …« Sie klingt weinerlich.
Ich stehe auf und gehe aus dem Zimmer, während meine Mutter und Dalila gerade den zweiten Gang bringen.
»Was gibt es? Was ist passiert?«, frage ich.
»Ganz einfach: Ich hänge in Mailand auf dem Bahnhof fest, total allein wie der allerletzte Idiot, und das an Heiligabend, das ist los. Wegen des Schnees ist mein Flug gecancelt worden.«
»Verdammt, Mary, das tut mir leid.«
»Was machst du nach dem Abendessen? Ich habe Alice angerufen, aber sie geht nicht dran.«
»Ich … nach dem Essen? Ich weiß noch nicht. Was machst du denn jetzt?«
»Keine Ahnung. Ich gehe nach Hause.«
»Kommt nicht infrage, komm doch zu uns, wir erwarten dich.«
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, hat meine Mutter gerade den zweiten Gang aufgetan. Stockfisch mit Topinambur, eine Art Kartoffeln, die mein Vater besonders gern mag.
»Wer war das?«, fragt er mich.
»Mary. Sie kommt her.«
74 Alice
Als ich die Wohnungstür öffne, empfängt mich eine seltsame Stille. Im Flur ist es dunkel, nur unter der Tür von Federicos Zimmer sehe ich einen Lichtstreif. Es riecht nicht nach Essen, und man hört nicht einmal das beruhigende Plärren des Fernsehers im Hintergrund.
Ich gehe gleich auf das Zimmer meines Bruders zu und öffne die Tür. Er sitzt vor dem Computer.
»He, was ist denn hier los?«, frage ich.
»Mama hat Kopfschmerzen und liegt im Bett.«
»Aber Oma und Opa stehen doch gleich vor der Tür. Und was ist mit Papa? Ist er schon zurück?«
»Oma und Opa kommen wegen des Wetters nicht durch, ihr Auto steckt im Schnee fest. Und Papa bleibt in der Fabrik.«
Die knappe Zusammenfassung meines Bruders macht deutlich, wie besorgniserregend die Lage ist.
»Und was machst du?«, frage ich ihn. »Sitzt nur da und spielst am Computer?«
»Was soll ich sonst machen?«
Ich verlasse das Zimmer meines Bruders und gehe direkt in die Küche, wo alles auf ein nicht zu Ende gebrachtes Feiertagsmenü schließen lässt. Ein Topf mit einer Soße, ein Braten, der in einer Form im ausgeschalteten Ofen steht. Eier und Zucker auf dem Tisch und zwei Rollen Blätterteig auf dem Kühlschrank.
Ich nehme das Handy und rufe meinen Vater an.
»Hallo, Alice«, sagt er schuldbewusst, als er nach ein paarmal Klingeln drangeht.
»Warum kommst du nicht nach Hause?«, frage ich ihn ohne Umschweife.
»Das kann ich nicht, Alice. Wir können hier nicht einmal Weihnachten weg. Es tut mir leid, aber bitte versucht doch, es zu verstehen. Wie geht es Mama?«
»Sie sagt, sie hat Kopfschmerzen und ist ins Bett
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