Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
offenkundig den Schrei einer Möwe imitieren soll.
Er deutet auf die Klingel und schüttelt stumm den Kopf, während er ein finsteres Gesicht zieht.
»Ja, stimmt«, gebe ich ihm recht, »die Klingel ist grauenhaft.«
Er nickt und drückt noch einmal seine Klingel to go . Dann betritt er die Wohnung. Die Katze bleibt starr auf dem Bett liegen und sieht ihn von oben herab an.
Nach einem schnellen Rundblick durch die Wohnung, ohne echtes Interesse für ihren Zustand zu zeigen (ich habe keine Ahnung, was seine Augen sehen, aber bestimmt hat es nur sehr wenig mit der Realität zu tun), geht der Typ auf den Balkon. Er sieht sich die Blumentöpfe an und grinst zufrieden.
»Was ist? Ich habe sie immer gegossen«, versichere ich und strecke beschwichtigend die Hände vor, obwohl er im Moment ganz friedlich wirkt. Er kniet sich sogar noch hin und sieht sich die Töpfe aus der Nähe an, keine Ahnung, warum. Als ich daraufhin näher komme, sehe ich junge Sprösslinge aus der Erde hervorragen. Einige sind kaum zu erkennen, andere haben schon zwei oder drei kleine Blättchen. Davon hatte ich überhaupt nichts mitbekommen.
»Was für Pflanzen sind das denn?«, frage ich, ehe sich mir ein übler Verdacht aufdrängt.
Er sieht mich an und nickt, dümmlich grinsend wie immer, als wollte er sagen »Ja, genau«.
»Ich muss weg«, sage ich unvermittelt. In drei Tagen geht mein Flugzeug, für die nächsten Nächte werde ich schon irgendeinen Schlafplatz finden und wenn (falls …) ich zurückkomme, werde ich mir eine andere Wohnung suchen.
Ich hole meinen Koffer unterm Bett hervor und werfe wahllos meine Klamotten hinein. Normalerweise hätte ich vielleicht nicht so hart reagiert, aber meine jüngsten Erfahrungen zwingen mich zu einem rigorosen Vorgehen, was Drogen angeht (das Absurde ist ja, dass ich selbst überhaupt keine nehme).
Der Typ sieht mich verständnislos an und verfolgt jede meiner Bewegungen. Nach fünf Minuten hole ich, schon in der Tür, mein Portemonnaie hervor, zahle für die letzte Woche und gehe.
Um sieben Uhr treffe ich im Lilly Restaurant ein. Das Konzert beginnt zwar erst in zwei Stunden, aber die Mädels von der Band sind schon da und machen einen Soundcheck. Als ich ihnen gesagt habe, ich hätte eine neue Location für das Konzert gefunden, haben sie mich zunächst fürchterlich beschimpft, vor allem Dalila. Aber schließlich konnte ich sie überzeugen.
»Na, wie läuft’s? Seid ihr bereit?«
»Was machst du denn mit dem Koffer?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Also?«, fragt mich das Gothic-Girl, während sie sich bemüht, einen Stecker in die Steckdose hinter einer Box hineinzubekommen.
»Ich bin aus meiner Wohnung ausgezogen. Der Typ, der sie mir vermietet hat, ist zurückgekommen, und ich habe entdeckt, dass er auf dem Balkon Marihuana züchtet. Ehrlich gesagt möchte ich Weihnachten nicht im Gefängnis verbringen.«
»Und das soll eine lange Geschichte gewesen sein?«, fragt das Gothic-Girl wieder. »Hilf mir mal bitte.«
Sie drückt mir den Stecker in die Hand.
»Jedenfalls ist das hier ein mieser Schuppen«, sagt sie, als ich endlich den Stecker in die richtige Buchse gefriemelt habe. »Ich weiß echt nicht, wie du uns dazu überreden konntest.«
Später, so gegen neun, kommen die ersten Gäste. Um halb zehn sind ungefähr fünfzig Leute da. Das sind zwar nicht die Fanmassen, die ich mir vorgestellt hatte, aber es ist immerhin ein Publikum. Junge und weniger junge Leute. An einem Tisch erkenne ich sogar die freakige Alte aus dem Red Vic, die mir ein strahlendes Lächeln zuwirft, als unsere Blicke sich begegnen. Am Tresen sitzt mein ehemaliger Vermieter, der dem Barmann seine Klingel to go vorführt, und der schaut ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost.
Wir beschließen, jetzt mit dem Konzert zu beginnen. Als erstes Stück spielen sie einen Klassiker aus ihrem Repertoire: About a Girl .
Die Akustik ist nicht gerade überwältigend und leider kann man den Bass diesmal wirklich nicht hören. Die Gäste stehen mit einem Glas in der Hand vor dem Tresen und lauschen der Musik.
Beim zweiten Stück, Smells Like Teen Spirit , klatscht das Publikum schon lauter. Inzwischen sind noch mehr Leute gekommen, und vor der Bühne hat sich eine kleine Menschentraube angesammelt.
Das Lilly Restaurant ist nicht wiederzuerkennen. Es sind Leute aller Altersklassen gekommen, in der Mehrzahl allerdings nostalgische Fans um die vierzig, die sämtliche Songs von Nirvana auswendig kennen.
Gegen elf
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