Ich mag dich wie du bist
sehe ich einen Leuchtturm, dessen Licht auf den Strand fällt, und ich denke an meine erste Begegnung mit Martina und an ihre Worte beim Anblick der Gruppe von Jugendlichen, die ums Feuer saßen.
»Siehst du, da liegen sich zwei in den Armen, zwei küssen sich, die anderen singen, und wenn du dich ein wenig umsiehst, wirst du auch zwei finden, die sich irgendwohin in die Büsche geschlagen haben. Von außen gesehen wirkt alles schön, aber das ist nicht die Wirklichkeit, das ist nur Fassade.«
Ist das so? Ist es wirklich so? Ist es immer nur eine Illusion? An einem Tag bist du glücklich und du schläfst mit deinem Freund, am nächsten Tag wird die Sache kompliziert und schon zofft ihr euch. Und was war dann wirklich? Nichts. Es gibt keine Verbindung zwischen zwei Leuten, die miteinander schlafen und zweien, die sich zoffen. Martina hat recht, es ist nur eine Illusion. Ich habe das Gleiche durchgemacht. Ich habe mich darauf eingelassen, auf neue Freunde, einen tollen Urlaub, den Rastatypen, aber jetzt wird mir klar, dass nichts davon echt war.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich schreie auf.
»Alice, Alice, ich bin’s, Entschuldigung, ich habe dich erschreckt.«
»Oma, hallo.«
»Wie geht es dir?«
»Gut. Nein, mir geht es überhaupt nicht gut. Warum bist du denn hier?«
»Ich wollte ein wenig Zeit mit meiner Enkelin verbringen. Was ist passiert?«
»Ich habe mich mit meinem Freund gestritten.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht, vielleicht habe ich mich benommen wie eine Vollidiotin. Ich habe was Dummes gemacht.«
»Na ja, dann sag ihm das, sag ihm, dass es dir leidtut.«
»Das ist nicht so einfach.«
»Die wichtigen Dinge sind niemals einfach, Alice. Vielleicht musst du etwas Ordnung in diesem kleinen Kopf schaffen, dir darüber klar werden, was du willst, und wenn du meinst, dass du einen Fehler gemacht hast, dann sag es ihm, er wird sich darüber freuen.«
»Ich weiß nicht, wir haben uns schlimme Dinge an den Kopf geworfen.«
Ich kann meiner Großmutter schlecht was vom Sich-mal-gegenseitig-können erzählen.
»Ja und? Du weißt doch, was man alles sagt, wenn man wütend ist. Das ist normal, das meinen wir doch nicht wirklich so. Wenn dein Großvater und ich streiten, oder besser gesagt, wenn wir gestritten haben, denn jetzt sind wir zu alt dazu, haben wir uns alles Mögliche an den Kopf geworfen. Und doch sind wir zusammen, wir lieben uns immer noch. Streiten ist völlig normal.«
»Und wenn die Beziehung nicht weitergeht?«
»Wenn sie zu Ende gehen soll, dann geht sie eben zu Ende. Aber du kannst dich nicht um alles gleichzeitig kümmern, nicht wahr?«
Mist! Meine Oma hat recht. Und selbst wenn sie nicht recht hat und ihre Rückschlüsse über das Leben für meinen Geschmack viel zu optimistisch sind, tun mir ihre Worte gut. Warum hat mir niemand gesagt, dass ich mit meiner Oma reden sollte?
»Weißt du, ich trage immer ein Gedicht bei mir. Es ist ein Ausschnitt aus einem Gedicht, das ich einmal vor vielen Jahren gelesen habe, ein Geschenk deines Großvaters. Es ist von einer brasilianischen Schriftstellerin, Martha Medeiros, es heißt ›Ode an das Leben‹, aber es ist kein trauriges Gedicht, auch wenn man das bei dem Anfang glauben könnte.«
»Hast du es dabei?«
»Hier, ich schenke es dir, ich brauche es nicht mehr, ich kenne es auswendig. Lies es heute Nacht, bevor du schlafen gehst.«
Langsam stirbt der,
der Leidenschaft aus dem Weg geht,
der das Schwarze dem Weißen vorzieht
und die Punkte auf dem »i« einem Bündel von Gefühlen,
die die Augen zum Leuchten bringen,
die ein Gähnen in ein Lächeln verwandeln,
die das Herz schneller schlagen lassen
bei Fehlern und Gefühlen.
Langsam stirbt der,
der nie den Tisch umwirft,
der die Sicherheit nie aufgibt
für die Unsicherheit eines Traums,
der sich nicht zumindest einmal im Leben die Freiheit nimmt,
sich vernünftigen Ratschlägen zu entziehen.
Langsam stirbt der, der nicht reist,
der nicht liest, der keine Musik hört,
der keine Anmut in sich selbst findet.
Siebenundsiebzig
»Also trefft ihr euch nicht mehr?«
»Nein.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie ist gemein.«
»Was hat sie denn gemacht?«
»Sie hat einen anderen geküsst.«
Luca und mir verschlägt es kurz die Sprache, so überrascht uns das treuherzige Geständnis meines Bruders. Fede sucht Lucas Blick, und dann sehen beide mich an. Auch gut, jetzt sollte ich die beiden wohl allein lassen. Das waren die Bedingungen, die mein Bruder
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