Ich mag dich wie du bist
Vater, unterstützt durch einen vorwurfsvollen Blick meiner Mutter.
»Aber …«
Ich habe nicht vor, mich zu streiten, nicht heute Vormittag. Deshalb lege ich das Buch zur Seite, stehe schweigend auf, gehe zu dem Berg aus Beuteln, riesigen Taschen und Klappstühlen und warte auf Anweisungen.
»Hast du dir etwas zum Lernen mitgenommen?«, fragt meine Mutter und klingt dabei ziemlich feindselig.
»Ich habe mir etwas zu lesen mitgenommen«, antworte ich ehrlich.
»Für die Schule?«
So ein Mist. Jetzt fängt sie auch noch damit an. Das geht zu weit. Ich kann es gerade noch ertragen, jeden Tag mit meinem Vater zu streiten, aber wenn sie jetzt auch noch anfängt, dann drehe ich durch.
»Nein, zu meinem Vergnügen.«
»Wenn du schon liest, dann wenigstens die Bücher, die du lesen musst .«
Ich weiß, ich könnte mir jetzt irgendeine Ausrede einfallen lassen. Ich hätte sagen können, dass ich das Buch für die Schule lesen muss, nein, dass mir mein Lehrer empfohlen hat, es zu lesen. Aber ich habe keine Lust, Lügen zu erzählen. Ich habe keine Lust, mir so ein Second Life auszudenken, und ich habe auch keine Lust wegzulaufen und »mich selbst zu verwirklichen«.
»Ich lese dieses Buch, weil es mir gefällt.«
Da mischt sich mein Vater ein.
»Du hast dieses Jahr schon genug getan, was dir gefällt, würde ich sagen.«
Inzwischen ist Federico wieder da und beobachtet uns schweigend mit drei Steinen in der Hand. Falls es ganz schlimm kommt, könnte er uns ganz leicht mit ein paar Würfen umhauen. Wir stehen alle da, an diesem ätzenden, steinigen Strand, der nach faulem Fisch stinkt.
»Alice, du musst die Schule ernst nehmen. Es geht um deine Zukunft.«
»Ich bezahle dir nicht noch ein Jahr.«
»Wenn du noch einmal sitzen bleibst, gehst du arbeiten.«
»Ich hätte mich damals nie getraut, mit einer Sechs nach Hause zu kommen …«
Ich weiß schon gar nicht mehr, wer da gerade redet, und es ist mir auch egal. Es sind die üblichen Reden, die üblichen Sprüche. Deine Zukunft ist das Wichtigste, du musst das tun, du musst das verstehen … Warum eigentlich? Warum muss ich lernen? Warum muss ich Abitur machen und studieren? Warum muss ich eine Zukunft wählen, wie es sich gehört? Warum muss ich Bücher lesen, die ich nicht mag? Wenn es wenigstens einen Grund dafür gäbe … aber den gibt es nicht. Man tut es eben, und Schluss. Das ist die einzige Erklärung. Oft war es für mich okay, oft habe ich es einfach akzeptiert. Aber nicht jetzt, nicht heute. Ich kann nicht mehr.
Siebzehn
Ich laufe schnell den Strand entlang. Mein Pareo rutscht mir über die Hüften hinunter. Ich lasse ihn hinabgleiten und hebe ihn nicht auf, sondern laufe mit hängendem Kopf weiter, meine Haare fallen mir über das Gesicht, sodass niemand meine Tränen bemerkt. Ich höre die Musik aus der Bar des Campingplatzes, das Gekreische, die Schreie der Kinder, die im Wasser spielen. Aber ich sehe nichts und niemanden, ich laufe nur vorwärts. Ich komme mir so dumm und unbeholfen vor. Ich kann mich nicht dazu aufraffen zu rennen, deshalb trippele ich mit schnellen Schritten vorwärts wie eine aufgeschreckte Gans. Ich komme an der Bar vorbei, am Campingplatz, ohne ein einziges Mal vom Boden aufzusehen. Ab und zu überspült das Meer meine Füße. Ich habe nicht einmal die Flip-Flops angezogen, und ohne den Pareo habe ich das Gefühl, nicht im Bikini, sondern in Unterwäsche herumzulaufen. Ich komme mir lächerlich vor. Die Musik wird langsam leiser. Der breite Campingplatzstrand verengt sich zu einem schmalen Pfad voller Steine und Klumpen aus braunen Algen. Ich laufe weiter, ohne mich umzudrehen. Dann wird der Weg wieder breiter, es gibt keine Steine mehr und ich finde mich auf einem weichen Sandstrand wieder. Der Sand hier ist fein und weiß und bleibt an meinen Füßen hängen. Ich werde langsamer, atme tief durch, schließe die Augen und öffne sie wieder. Wenige Meter vor mir auf dem Strand liegt eine Möwe.
Vorsichtig nähere ich mich ihr. Ihr Schnabel ist halb im Sand versunken, ein Flügel ist unter dem Bauch angezogen und der andere hängt zur Seite. Sie zittert. Ihre Augen sind weit aufgerissen und voller Panik. Ich knie mich ein paar Meter vor ihr hin und sehe sie an. Sie versucht, den Schnabel zu öffnen und schließt ihn wieder mitten im Sand. Ein Bein bewegt sich kräftig, und nach einigen Sekunden gibt sie sich einen Ruck. Sie rappelt sich auf und rollt auf die Seite, doch sie schafft nur einen halben Meter zum Ufer hin.
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