Ich mag dich wie du bist
nicht.«
»Ma, er sagt, er weiß es noch nicht.«
»Und wann will er sich entscheiden?«
»Pa, wann wirst du dich entscheiden?«
»Sag ihr, ich weiß es nicht.«
»Er sagt, du sollst mir fünfzig Euro geben.«
Mein Bruder liebt diese indirekten Streitgespräche, auch weil es dabei nicht so heftig zur Sache geht. Wenn man sich den Luxus erlauben kann, sich eine Strategie zurechtzulegen, heißt das, dass man eigentlich gar nicht so wütend ist. Auf jeden Fall hat mein Bruder einen Heidenspaß daran, sie beide hochzunehmen.
»Alice, fragst du bitte meine Mutter, ob ich aufstehen darf?«
»Ach, komm jetzt, Fede.«
»Mama, kannst du Alice bitten, mir zu antworten?«
»Los, steh schon auf und mach, was du willst!«
Da unsere Erziehungsberechtigten sich zoffen, können wir mehr oder weniger tun und lassen, was wir wollen.
Und so beginnt nun das Alles-egal-Projekt: Der Wecker klingelt erst um zehn, an den Strand gehen wir so gegen elf, halb zwölf, mittags gehen Fede und ich nicht zum Wohnwagen, sondern essen irgendetwas am Strand. Abends Essen mit der Familie, das schon, aber danach kann jeder machen, was er will, was so toll nun auch wieder nicht ist, da man hier nicht viel tun kann, aber wenigstens kann ich mich vor den Computer hängen und so lange dort bleiben, wie ich möchte.
Meine Mutter hat sich in Aktionismus gestürzt, mit Wassergymnastik, Yoga im Pool und schließlich der vom Animateur organisierten »Abendunterhaltung«.
Innerhalb von zwei Tagen hat sie mit dem halben Campingplatz Bekanntschaft geschlossen, und wenn wir jetzt an den Strand kommen, grüßen sie alle. Ich dagegen hatte nach dem Mittagessen mit dem Rastatyp keine Gelegenheit mehr, irgendwelche Kontakte zu knüpfen. Aber das ist auch okay. Ich bin zwar mit dem Projektpunkt »Neue Freunde« noch nicht weitergekommen, aber ich ziehe zumindest meine Kreise um die Bar am Strand des Campingplatzes.
Das ist die wahre Revolution. Und Fede und ich haben es wirklich ausgereizt: Nicht genug damit, dass wir dreimal am Tag zur Bar pilgern, um uns Cola, Eis oder Iced Coffee zu holen, wir stellen jetzt sogar unseren Sonnenschirm in gewagten zehn Metern Abstand von dort auf, damit wir die Radiosendung mit den Festivalbar-Hits mithören können. Diese letzte Entscheidung ist zweifellos ein grundlegender Teil des Alles-egal-Projekts und verschafft uns am meisten Befriedigung.
Abends verbringe ich zwei Stunden im Freizeitraum, chatte mit Luca und nun auch mit Chiara, die alles über meine Fortschritte in punkto Gefühlsleben wissen will. »Also hast du jetzt geknutscht oder nicht?«, »Und was ist mit dem Rastatyp?«. Den habe ich nicht wiedergesehen, und ehrlich gesagt bin ich gar nicht so sicher, ob ich ihn überhaupt wiedersehen will, nachdem ich ihn wie einen Dieb davongejagt habe.
Mein Lernprogramm hat noch nicht begonnen, schließlich gehört das ja auch nicht zum Second-Life-Projekt. Das war ja nur zur Beruhigung meiner Eltern gedacht. Schließlich bin ich sitzen geblieben. Im nächsten Jahr muss ich sowieso alles noch einmal von vorn durchnehmen. Was soll ich also lernen? Okay, okay, ich weiß genau, jetzt könnte jemand, meine Mutter zum Beispiel, sagen: »Gerade weil du sitzen geblieben bist, musst du mehr lernen.« Aber ich muss mich auch mal entspannen und dieses Jahr abhaken. Und solange mir das gelingt, ist alles in bester Ordnung.
Ich habe Lucas Buchempfehlung Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins beinahe ausgelesen, der Typ ist gerade mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs und sagt, die Waggons seien dreckig. Da das Buch nicht auf dem Lehrplan steht, wird mich niemand später fragen, was die Flucht des Protagonisten bedeutet oder diese oder jene Szene. Ich lese es einfach, mehr nicht. Wenn ich fertig bin, kann ich es sogar vergessen. Das ist doch der Sinn von Second Life, oder? Eine Wirklichkeit, in der man tun und lassen kann, was man will. Aber wenn man das nur im Internet tut, hat es keine Folgen. Was käme wohl dabei rum, wenn ich tatsächlich alles tun würde, was ich möchte, was ich mir wirklich wünsche? Wahrscheinlich ein ziemliches Chaos.
Die plötzliche Verwandlung meiner Mutter ist ja das beste Beispiel dafür. Also, natürlich ist ihr plötzliches geselliges Leben eine subtile Form der Rache an meinem Vater. Aber sie hat sich in wenigen Tagen von dem üblichen Campinghausmütterchen in eine Miss Club Med verwandelt: Sie nimmt nicht nur an sämtlichen Aktivitäten des Animationsprogramms teil und kennt
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