Ich mag dich wie du bist
es ist kein geistesgestörter Irrer.
Ungefähr zehn Meter vor mir läuft ein Mädchen schnellen Schrittes über den Strand. Sie hält die Augen auf den Sand gerichtet und schluchzt.
Ich frage mich, wie viele einsame Mädchen in diesem Augenblick in Tränen aufgelöst am Strand entlanglaufen: weil sie gerade mit jemandem gestritten haben, weil ihr Freund gerade mit ihnen Schluss gemacht hat, weil sie sitzen geblieben sind, weil sie einen schwierigen Abend hinter sich haben oder weil sie spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist und nicht genau wissen, was es ist.
Na, hier gibt es jedenfalls schon mal zwei davon und noch dazu genau am gleichen Ort.
Das Mädchen setzt sich auf einen Felsen, ich rühre mich nicht. Sie wendet mir den Rücken zu, starrt auf den Vollmond und zündet sich eine Zigarette an.
Ich will gehen. Eigentlich bin ich hierhergekommen, um allein zu sein und ich kann mir vorstellen, dass es dem anderen Mädchen genauso geht. Doch als ich rückwärts gehe, stolpere ich über einen Zweig und lande direkt auf dem Boden. Ich bleibe liegen und schaue mich um. Die Jungs mit der Gitarre sind zu weit weg, um mich zu bemerken. Diese Blamage würde ich auch nicht ertragen, nicht jetzt.
»Wer ist da?«, fragt das Mädchen ängstlich.
Ich stehe wieder auf.
»Äh, ich bin …«
Was sage ich jetzt bloß?
In dem Moment fällt mir auf, dass ich die Stimme kenne.
»Martina, ich bin’s, Alice.«
»Alice?«, fragt sie, als würde mein Name ihr im Moment nichts sagen.
»Tut mir leid, ich bin gestolpert.«
»Alice!«, ruft sie aus und es klingt eher erstaunt als erfreut.
»Entschuldige … ich gehe schon.«
Ich laufe weiter, möchte auf den Campingplatz zurück, die Videokamera holen und schlafen gehen. Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen und …
»Warte.«
Warte?
Dreiunddreißig
Unschlüssig bleibe ich stehen und sehe sie an. Sie wirkt anders, kleiner, sogar noch dünner als sonst. Nicht dass sie je dick gewesen wäre, aber jetzt, wo ich genug Zeit habe, um sie in der Dunkelheit der Nacht genau zu betrachten, fällt es mir schwer, die übliche Martina wiederzuerkennen. Das Mädchen, das ich hier am Strand sehe, ist unsicher, schwach und verängstigt.
»Hallo«, sagt Martina, dabei zittert ihre Stimme, aber sie versucht zu lächeln. »Bist du auch geflüchtet?«
»Nein, na ja, doch, ich hab einen Spaziergang gemacht …«
Martina holt noch eine Zigarette aus dem Päckchen und zündet sie nervös an. Ich weiß nicht genau, was ich jetzt machen soll, aber in der Zeit, die sie für diese Zigarette braucht, kann ich mir ja was einfallen lassen, was ich sagen kann. Martina starrt auf irgendeinen Punkt zwischen mir und dem Meer.
Erster Zug, zweiter Zug.
Ich finde immer noch keine Worte, um das Schweigen zu beenden, meine Zunge ist wie festgeklebt am Gaumen. Das Mädchen, das nur wenige Meter vor mir sitzt und weint, ist keine von meinen Freundinnen, die ich sofort fragen würde, wie geht es dir und was ist passiert, und es ist auch nicht Luca, der zwar nicht weinen würde, aber bei dem ich genau wüsste, was zu tun wäre.
Dritter Zug.
Außerdem würden die sich gleich auskotzen, oder zumindest Chiara würde das tun, aber sie alle würden mich auch zurückfragen, was ich eigentlich hier so allein mache. Ich weiß nicht, welche Probleme Martina hat, und ich möchte ebenso wenig, dass sie von meinen erfährt. Ich bin sitzen geblieben, es war ein Scheißjahr und ich bin mit meiner Familie im Urlaub. So aufgelistet wirkt es eigentlich gar nicht wie echte Probleme. Wahrscheinlich findet man das im Lexikon unter dem Stichwort »pubertäre Befindlichkeitsstörungen«.
Vierter Zug, fünfter Zug.
Aber es ist Martina, die da vor mir sitzt. Für sie gibt es bestimmt ein eigenes Lexikon, und dort kommen Begriffe wie »Pubertät«, »Eltern« und »Schule« nicht einmal vor. Das quillt bestimmt über von Worten wie »Freunde«, »gesellschaftspolitische Diskussionen«, »Sex« und »Scheidungen«.
Sechster Zug.
Mehr weiß ich nicht über Martina, und einen Moment lang muss ich darüber nachdenken, dass es nicht gerade viel ist. Und in diesem Moment müsste ich zumindest die Wörter »Tränen« und »Schmerz« hinzufügen.
Überraschend lässt Martina die Zigarette in den Sand fallen. Ich sage nichts, aber ich gehe zu ihr und setze mich neben sie, was für mich bedeutet, dass ich es ihr überlasse, zu reden und mit der Situation und unserem Verhältnis umzugehen, wie sie es ja gewohnt
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