Ich mag dich wie du bist
Videokamera auszumachen drücke ich sie dem Animateur in die Hand.
»Mach dir doch deine Filmchen selber, du Wichser.«
Dann stehe ich auf und verschwinde.
Zweiunddreißig
Die Wirkung des Betäubungsmittels für Pferde ist nun vollständig verflogen und der Schmerz trifft mich wie ein Faustschlag im Kopf und im Magen. Meine Augen füllen sich mit Tränen bei dem Gedanken, dass an allem, was gerade passiert, etwas falsch ist. Als ich hochschaue, sehe ich durch meine Tränen verschwommen die Sterne. Mein Sitzenbleiben, der Streit mit Luca, meine Freundinnen, die jetzt allein Urlaub auf Sardinien machen. Und während ich so langsam begreife, dass überhaupt nichts Schlimmes an diesem Abend war, dass meine Eltern sich nur ein wenig amüsieren und nichts davon besonders abwegig oder dramatisch ist, schüttelt mir ein Schluchzen die Brust. Ich bin ganz allein schuld an allem, was passiert, und nun mache ich schon seit zwei Wochen meine Eltern an wegen etwas, wofür sie nichts können. Nur weil es einfacher ist, zuzusehen und zu jammern, als sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Doch in meinem Kopf schwirren zu viele Stimmen herum, und ich kriege nicht einmal mehr auf die Reihe, von wem diese Erkenntnisse stammen.
»Es reicht«, sage ich ganz leise, mit gebrochener Stimme. »Es reicht, es reicht, es reicht.«
Ich laufe am Strand entlang, immer weiter, lasse die Musik hinter mir, den Tanzwettbewerb, den Campingplatz, meine Gedanken, den Animateur, einfach alles.
Und plötzlich ist da nichts als Dunkelheit, nur durchbrochen von der Brandung des Meeres.
Ich weine immer noch leise, fühle, wie die Tränen mir in der Brust brennen, während ich mit tiefen Atemzügen meine Lungenflügel mit Luft fülle, die sich weiten, als brauchten sie Platz.
Dann bleibe ich stehen. Ich atme immer noch tief, und als ich mir die Tränen mit dem T-Shirt abwische, stelle ich fest, dass ich nicht mehr weine.
Was ist denn eigentlich passiert? Gar nichts. Diese Antwort beruhigt und beunruhigt mich zugleich.
Ich komme an einem dieser typischen Grüppchen von Freunden vorbei, die mit einer Gitarre am Strand sitzen. Sie sind älter als ich, singen irgendeinen alten Song von Ligabue.
Spontan nehme ich mein Handy und rufe Chiara an.
Es klingelt fünf- oder sechsmal.
Ich will schon aufgeben, als mir eine fröhliche Stimme antwortet:
»Alice!«
»Hi, Chiara!«
»Toll, dass du dich meldest! Wo bist du?«
»Ich bin gerade am Strand.«
»Ach was, ist ja toll, wir wollen gerade ausgehen. Zum Tanzen.«
»Los, sag schon, wie läuft es mit eurem Urlaub?«
»Also, wir stehen um eins auf und dann geht’s direkt an den Strand. Wir haben ein paar Jungs aus Rom kennengelernt und treffen uns jetzt immer mit denen. Heute Abend haben wir sie zum Essen eingeladen und jetzt gehen wir noch mal aus. Einer ist echt süß und ich glaube, der mag mich … na, ich erzähl dir später davon.«
»Hmm, okay, aber seid ihr alle da?«
»Ja, klar! Mädels, das ist Alice!«
Ein Chor aus Hallos und anderen Rufen begrüßt meinen Anruf.
»Ali, Mensch, es wär echt toll, wenn du jetzt auch hier wärst …«
»Hey, mir brauchst du das nicht zu sagen … na ja, wir holen das nächstes Jahr nach.«
»Aber sicher! Ali, ich muss jetzt, die warten auf mich, ich hab dir ne Mail geschickt, hast du die nicht gelesen?«
»Nein, die hab ich nicht gesehen.«
»Ich hab sie dir eben erst geschickt, das Haus hier ist echt toll, es gibt sogar WLAN! Ciao, Ali, ruf mich morgen an, dann haben wir was zu erzählen. Jetzt müssen wir los.«
Ich packe das Telefon in die Tasche zurück und atme tief ein.
Auf einmal fühle ich mich ganz ruhig, gar nicht mehr traurig oder deprimiert. Klar, ich bin auch nicht gerade begeistert, aber ich habe mich abreagiert. Meine Freundinnen sind eben auf Sardinien, ohne Eltern in einem echt tollen Haus, und haben Spaß. Nächstes Jahr werde ich auch dabei sein, vielleicht nicht in Sardinien, aber irgendwo anders und vielleicht habe ich dann sogar einen festen Freund. Ich weiß nur eins: In diesem Augenblick ist es mir scheißegal, was jetzt oder was in Zukunft ist.
Schluss mit diesen melodramatischen Auftritten.
Aus dem Augenwinkel sehe ich gerade noch eine Sternschnuppe verschwinden und wünsche mir sogar etwas.
Plötzlich höre ich sich nähernde Schritte. Ich erstarre und sehe mich verängstigt um. Die Jungs mit der Gitarre sind nicht weit weg. Wenn es ein geistesgestörter Irrer ist, schreie ich los, und die werden mich hören.
Aber
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