Ich mag dich wie du bist
ist.
»Erzähl mir was«, sagt sie plötzlich.
»Wie meinst du das?«, frage ich, vor allem, um Zeit zu gewinnen.
»Erzähl mir was, irgendetwas, ich muss mich ablenken.«
So gesagt klingt das nicht gerade ermutigend. Ihre Art, mich zu behandeln, diese plötzliche freundschaftliche Vertraulichkeit, ist mir unangenehm. Das passt weder zu ihr noch zu mir, aber eigentlich hatte ich genug Zeit, um sie zu fragen: »Was ist los? Alles in Ordnung?«, und ich habe es nicht getan. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mitzuspielen.
»Möchtest du etwas Schönes oder etwas Schlimmes hören?«
Sie sieht mich an und lächelt auf einmal wie ein kleines Mädchen.
»Ich möchte … zuerst das Schlimme und dann das Schöne hören.«
»Na gut, okay.«
»Also, dass Schlimme ist, dass ich ein beschissenes Jahr hinter mir habe und auch noch sitzen geblieben bin …«
Sie sieht mich ermutigend an, als wollte sie sagen, dass es so richtig ist. Es ist genau das, was sie hören will.
»Und das Schöne ist, dass …«
Ich zermartere mir krampfhaft das Hirn, um etwas Schönes zu finden, das ich erzählen kann. Etwas, was mir kürzlich oder in diesem Jahr passiert ist, irgendeine Episode, ein Augenblick, ein Tag. Ich schließe die Augen ein wenig, um mich besser erinnern zu können, aber alles ist in einen leichten Nebel gehüllt. Das vergangene Jahr fliegt vor meinen Augen vorbei wie ein Zug und ich kann weder die Wagen noch die Fahrgäste darin genau erkennen. Ich spüre, wie sich etwas in meinem Magen regt, es steigt auf und setzt sich direkt über meinem Brustbein fest. Ich öffne die Augen gerade noch rechtzeitig, bevor ich merke, wie mir ein Schluchzen die Brust durchschüttelt.
Vierunddreißig
Ich weine nicht. Ich schluchze drei- oder viermal, aber ich halte die Tränen zurück. Das ist, als bekäme man einen Faustschlag mitten in die Brust und bliebe einfach stehen. Plötzlich ist die Lage umgekehrt. Und es ist Martina, die redet und mir eine Hand aufs Knie legt.
»He, was ist los?«
Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll, denn ich weine ja nicht wegen des Tanzwettbewerbs auf dem Campingplatz oder wegen dieses beschissenen Abends, ich weine nicht, weil ich sitzen geblieben bin oder etwa wegen Luca. Ich weine, weil mir beim Rückblick auf das vergangene Schuljahr nicht eine einzige schöne Sache einfällt, die ich gern erzählen möchte.
So vergehen einige Minuten.
Sie lässt die Hand auf meinem Knie liegen, aber mehr wie bei einem Kranken oder jemandem, der gerade einen Unfall gehabt hat und jetzt auf den Krankenwagen wartet. Dann, als ich mir so gut wie sicher bin, dass ich mich wieder im Griff habe, weine ich wieder los, diesmal entschieden lauter. Ich sacke nach vorne und bedecke mein Gesicht mit den Händen. Da legt sich ein Arm auf meinen Rücken und umfasst ihn. Eine Hand streichelt sanft und tröstend meine Seite. Leise rollen die Tränen weiter, bis aus den Schluchzern leise Seufzer geworden sind.
Und auf einmal fühle ich mich erleichtert.
Ich richte mich auf und sehe zu ihr.
Sie wirkt beinahe besorgt, auf diese Situation war sie genauso wenig gefasst wie ich. Aber sie fragt mich nicht, was in mich gefahren ist, fragt mich nicht, warum ich geweint habe, genau wie ich sie vorher nichts gefragt habe.
»Jetzt bist du dran«, sage ich, sehe sie direkt an und lächele ein wenig.
Sie begreift nicht sofort und sieht mich erstaunt an.
»Das heißt«, erkläre ich, »dass du jetzt an der Reihe bist mit dem Ausheulen, wenn dir danach ist …«
Diesmal lacht sie und wirkt ganz froh darüber.
»Zu spät«, sagt sie und gibt sich enttäuscht, »ich habe bis eben schon geweint, das hätte ich früher wissen müssen!«
»Dann erzähl du mir jetzt etwas.«
Sie wird wieder ernst und holt eine Zigarette aus dem Päckchen. Bevor sie sie anzündet, bietet sie mir eine an.
»Nein, danke, ich bin doch die, die nicht raucht, oder?«
»Ach ja, stimmt.«
»Außerdem würde mich meine Mutter wahrscheinlich umbringen, wenn sie mich mit einer Zigarette in der Hand sehen würde.«
»Dann bist du nicht nur die, die nicht raucht, sondern auch noch die mit der überbesorgten Mutter …«
»Ein braves Mädchen eben«, meine ich schulterzuckend, »das aber sitzen geblieben ist.«
»Na gut, das ist doch egal, eine Menge Genies waren schlecht in der Schule.«
Ich weiß, das ist nicht gerade originell, aber es ist der erste nette Satz, den jemand zu mir sagt, seit ich sitzen geblieben bin.
Ich suche wieder ihren
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