Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Das grünliche, ruhige Meer vor dieser schottischen Küstenstadt sieht aus wie altes Porzellan, und erste Krokusse lugen aus dem fruchtbaren Boden. Wenn jetzt noch eine Herde schwarzgesichtiger Schäfchen unter der Obhut einer kleinen hübschen Schäferin die Landstraße entlanggetrottet käme, würde ich mich auch nicht mehr wundern. In der Ferne erklingen aus unerfindlichen Gründen wehklagendeDudelsackweisen. Doch hier in dieser Steinkapelle herrscht reine Freude. Ich trete ein und fühle mich sofort zu Hause, als hätte ich ein geliebtes Buch aus dem Regal gezogen und es an einer mit Eselsohr markierten Stelle aufgeschlagen. Woher diese Vertrautheit stammt, kann ich nicht sagen. Doch ich habe gelernt, dass nicht nur das Leben eine lange Ansammlung von Mysterien ist, darin steht der Tod ihm in nichts nach.
Ich drehe mich um, und da ist sie. Annabel, strahlend wie eine goldgelbe, von Kolibris umschwirrte Blüte, schreitet aufrecht zu ihrem Platz, grüßt nach links und rechts und bedankt sich bei allen Gratulanten. An ihrer Seite geht Ewan, einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen mit rosigen Wangen und roten Locken an der Hand. »Dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten«, flüstert jemand, als die Kinder vorübergehen. Annabel ist ihre Stiefmutter. Sie trägt ein Bündel in Händen, gekleidet in das Taufkleid des Campbell-Clans aus cremefarbener Spitze, die einen Stich ins Gelbe hat und so weich ist wie Federn. Dem selig schlafenden Neugeborenen, das von all diesem Aufwand nichts weiß, gehört die andere Hälfte meiner Aufmerksamkeit.
Die Kapelle füllt sich langsam, und durch die weit offenstehenden schweren Holztüren dringt eine frische Meeresbrise. Liebe erfüllt den Raum, und Annabel blickt mit einem so ungläubigen Staunen auf ihr Kind wie einst ich auf sie. Ich nehme alles und jeden in mich auf, und die Leere in mir weicht mehr und mehr.
Der gebeugte Geistliche beginnt den Gottesdienst mit einem Dank für diesen glücklichen Augenblick, die Geburt eines Kindes. »Gott, mit freudvollem Herzen bitten wir Dich für diese Deine Kinder, Ewan und Annabel Campbell.« Seine »Rs« rollen sanft wie Wasser über glattpolierte Steine. »Hilf ihnen, kluge und geduldige Eltern zu sein und zu verstehen, was Körper und Geist eines heranwachsenden Kindes benötigen. Und in schweren Zeiten schenke ihnen Mut.«
Unwillkürlich beginne ich zu beten, zu einem Gott, mit dem ich so meine Schwierigkeiten hatte. Erspare ihnen Leid, bitte ichGott. Beschütze Annabel, beschütze ihren Ehemann und seine Kinder. Beschütze dieses Baby, mein Enkelkind. Ein Wort, das ich wirklich mit großem Staunen benutze. Es ist ein Wunder, dass mein Kind ein Kind hat, ein Kind, das ich zwar nicht kenne, aber das ebenfalls ein Wunder ist.
Der Geistliche fährt mit singender Stimme fort, und ich sehe mich in der Kapelle um. Dort sitzt meine Mutter, mit einem – in meinen Augen – immer noch jungen Gesicht. Sie lehnt sich an ihren brandneuen Felsen, einen Mann, der nicht halb so gut aussieht wie mein Vater, aber ein rundes, sympathisches Gesicht hat. Er weiß, dass selbst das Glück des heutigen Tages alles wieder wachruft, und streichelt die arthritische, aber weiche Hand meiner Mutter. Sie blinzelt und ist fünfundzwanzig Jahre zurückversetzt, in den Februar meines Todesjahres, als die Zukunft ein schwarzer Schatten war und ihr alle Zuversicht nahm. Doch sie ist klug genug, noch einmal zu blinzeln und in die Gegenwart zurückzukehren, wo so viel Erfüllung ist.
Hicks und Brie flüstern und lachen. Um Bries Hals hängt die Silberkette mit der Lupe, die ich ihr vor so langer Zeit geschenkt habe. Feine Linien in ihrem Gesicht zeichnen die vergangenen Dekaden nach. Sie ist eine Königin, das dunkle Haar hochgesteckt. Hicks trägt statt einem Ohrring jetzt eine Brille und ist fülliger geworden, wie es sich für einen Anwalt seines Ansehens gehört. Als mein Prozess ergebnislos zu Ende gegangen war, was er als persönliche Niederlage aufgefasst hat, begann er im Abendstudium Jura zu studieren. Heute praktizieren er und Brie gemeinsam, Lawson & Hicks, die Anwälte, die Sie brauchen, wenn Sie vor Schuld nicht mehr aus noch ein wissen. Es geht ihnen prächtig, und sie haben mehr gemeinsam als die meisten verheirateten Paare. Gestern haben sie sich beim Golfspielen so sehr für die Schönheit Schottlands begeistert, dass sie hier vielleicht sogar ein Haus kaufen wollen. Doch wie könnten sie je die grünen Hügel von Columbia County aufgeben,
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