Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
zwinkern.
»Annabel hat dein Lächeln, mit dem du jeden Raum zum Strahlen bringen konntest. Man muss das Mädchen einfach lieben. Sie ist ganz und gar dein Abbild.«
»Warum ist sie nach Schottland aufs College gegangen?« Aus glaubwürdiger Quelle wusste ich, dass sie einen Platz in Princeton bekommen hatte – die Leiterin der Zulassungsstelle kam hierher, nachdem sie von einem ehemaligen Studenten niedergeschossen worden war, weil sie seinen Sprössling abgelehnt hatte.
»Sie wollte weg«, sagte mein Vater, »von dem Getuschel der Leute, die mit dem Finger auf sie zeigten, von den ewigen Streitereien zwischen Barry und Stephanie. Und Jordans Tod hat sie schwer getroffen. Die beiden haben sich immer in eine Ecke verkrümelt und die Köpfe zusammengesteckt, wie zwei Pinguine auf ihrer eigenen Eisscholle.« Dann schwieg er einen Moment und sah mir einfach nur in die Augen. Und in diesem Moment konnte ich spüren, wie es war, ganz zu sein und lebendig.
»Aber das Leben ist komisch«, sagte er.
Ja, nicht wahr?
»Wenn Annabel nicht nach Schottland gegangen wäre, hätte sie Ewan nie kennengelernt. Zuerst waren deine Mutter und ich entsetzt. Wir dachten, unsere kleine Annie-Belle würde nur nacheiner Art Vaterfigur suchen. Aber Lucy hat sie verteidigt. Und sie hatte recht.«
Das hatte sie oft.
»Ewan war genau das, was sie brauchte.«
»Erzähl mir von ihrer Hochzeit – wart ihr dort, Mom und du?«
»Natürlich! Deine Mutter war ganz hingerissen von Ewan in seinem Kilt. Es gab so viele Kerzen, dass ich dachte, diese alte Burg wird noch schmelzen. Doch deine Tochter sagte, es solle wie in ›Die Zeit der Unschuld‹ aussehen, denn Lucy hätte geschworen, das sei dein Lieblingsfilm gewesen.«
Meine Schwester hält mein Andenken wirklich so lebendig, als wäre ich Prinzessin Diana, war mein erster Gedanke. Und mein zweiter: Macht Martin Scorsese eigentlich immer noch Filme?
»Und ein Toast war besser als der andere!«, sagte mein Vater und imitierte einen schweren schottischen Akzent: »Auf unser Wohl, denn wer ist schon wie wir?« Und die Antwort fügte er auch gleich hinzu. »Verdammt wenige – und die sind alle tot.« Er sah sich um, und dann brachen wir beide in ein so schallendes Gelächter aus, wie nur wir hier in der Ewigkeit es können.
46
Unendliche Liebe
Ich hatte aufgehört, nach unten zu gehen, als ich meine Besuche als immer grausamere, unangemessene Tortur und als Selbstgeißelung empfand, die mich nur trauriger, wütender und einsamer machen. Ich lernte, einfach in der Ewigkeit dahinzutreiben und meine Erinnerungen fortspülen zu lassen. Wenn ich je genau wusste, wie ich gestorben war, so vergaß ich nach und nach mehr, als ich je darüber erfahren hatte. Ich hörte auf, nach Antworten zu suchen, und bemühte mich, Frieden zu finden.
Ich war in einen Zustand geraten, den Sam als Überhitzung der Seele diagnostizierte, und hatte mich zum Schutz in Gedächtnisschwund verkrochen wie in eine Eishöhle. »Das passiert Leuten, deren Leben so endet wie deines.« Gewalttätig, rücksichtslos, unverzeihlich. Jung. »Doch die Liebe deines Vater befreit vielleicht ein paar Erinnerungen wieder.« Sams Theorie klang wie ein Haufen Psycho-Mist, aber ich begann allmählich, die Wahrheit darin zu erkennen. Und so entstand in mir der Wunsch, noch einmal zurückzukehren, obwohl meine Fähigkeiten erschlafft waren wie Muskeln nach einer langen Krankheit.
Ich bat meinen Vater, mich zu begleiten. Doch er sagte, er sei noch nicht so weit, ja, dass er vielleicht nie so weit sein würde. Denn Dan Divine konnte es nicht ertragen, seine Claire mit einem anderen Mann zu sehen.
Zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters heiratete meine Mutter ihren Nachbarn, einen Witwer, der ihr gestand, dass er schon immer verrückt nach ihr gewesen war – was Lucy und ich vor Jahren bereits daran erkannt hatten, wie er stets mit leuchtenden Blicken an ihr hing. Claire Divine schreibt Geschichte, eine Frau, die zweimal die wahre Liebe voll Leidenschaft, Zärtlichkeit und Verständnis gefunden hat. Ich glaube nicht, dass mein Vater meiner Mutter diese Neuauflage ihres Glücks missgönnt, doch er legt keinen Wert darauf zu hören, wie ihr neuer Mann sie schmachtend »Clairie-Schatz« ruft.
Auf den Britischen Inseln kannte ich bis jetzt einzig und allein London – wo ich durch Antiquitätenläden streifte, zu viel Fish ’n’ Chips aß und mich darüber amüsierte, dass die Leute so oft »Papperlapapp« sagten. Und jetzt bin ich hier.
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