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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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ich.
    »Was? Sie wissen doch genau, wer ich bin!«
    Und auf einmal wusste ich es. Ich verstand alles, und ich fühlte mich von einem starken, reinen Gefühl bestärkt. Ich glaube, es war glühender Hass. Wieder drehte ich mich um. Ich wollte noch einen Blick nach hinten werfen, um absolut sicher zu sein. In diesem Moment stießen wir zusammen. Mein Fahrrad brach in einem wirren Zickzack nach links aus. Ich verlor den Halt, meine Arme flogen in die Luft, ich hatte keine Kontrolle mehr. Ein Fuß löste sich, doch der andere blieb in der Pedalhalterung hängen. Das alles sah ich, wie ich wohl einen Horrorfilm ansehen würde, bis ich die Augen schließen musste. Endlich – das Fahrrad wurde langsamer.
    Ich dankte Gott. Wie sagte mein Grandpa Louie immer? Ein Jude, der keine Wunder erwartet, ist kein Realist.
    Dann sah ich, was mir bestimmt war. Der scharfe, gezackte Rand eines Steins. Wie in Zeitlupe traf er auf meine Stirn, meine Haut platzte auf, Blut lief mir in den Mund. Mit dem ohrenbetäubenden, höhnischen Krachen sich verbiegenden fröhlich gelben Metalls landete mein Fahrrad auf mir.
    »Nein!«, rief jemand. »Das darf doch nicht wahr sein!« Ich war ziemlich sicher, dass diese körperlos klingende Stimme nicht meine eigene war.
    Ich hörte mein Fahrrad aufs Wasser aufschlagen, und die aufspritzende eiskalte Gischt ließ mein Gesicht erstarren, meinen Hals, meine Schultern. Dann spürte ich   … nichts mehr.
    Der Fahrradfreak stand über mir und befreite meinen Fuß. Oder vielleicht habe ich mich auch selbst irgendwie losgemacht, mit plötzlich übermenschlichen Kräften. Ich lag am Flussufer. Dasbrackige Wasser war das Einzige, was ich sah und roch. Wie schnell war diese verdammte Strömung? Wann war ich das letzte Mal gegen Tetanus geimpft worden? Konnte ich überhaupt noch schwimmen?
    Als der Hudson mich einzusaugen drohte, kroch ich mich windend vorwärts und streckte die Hand nach einer aufragenden, mit grünem Schleim bedeckten Speiche aus. Ich musste mich dazu zwingen, der Schmerz in meinem Arm war nahezu unerträglich. Bei dieser abrupten Bewegung sah ich ein Glitzern am Klettverschluss meines Ärmels. Ich hatte einen Schatz geangelt, einen rosa Herzanhänger, der mit pflaumenblauen Steinen eingefasst war, das Herz, das Barry mir schenken wollte, oder seinen bösen Zwilling. Für dich, liebe Molly. Hier ist noch ein Stich in
dein
Herz.
    Ich streckte eine eisige Hand – mein Handschuh war zerfetzt – nach dem höhnischen Funkeln aus und ergriff das kalte, harte, glatte Schmuckstück. Als hätte ich Gott ergriffen, schlossen sich meine Finger um das Herz.
    Ich war ein Lamm am Spieß, und in meinen Schultern pulsierte der Schmerz. Ich war durchweicht, und doch schwitzte ich unmäßig. Wenn ich mich in der Anatomie des menschlichen Körpers nicht täuschte, hatte ich mir vermutlich das Schlüsselbein gebrochen. Doch meine Schmerzen in Beinen und Schultern waren nur halb so stark wie die in meinem Inneren.
    Ich wollte die Augen wieder schließen.
    Einmal tief Luft holen.
    Mich ausruhen.
    Da war noch eine Stimme, die mich aufforderte, wach zu bleiben, mich nicht dem schneidenden Schmerz hinzugeben und dem andrängenden eiskalten Wasser. »Molly«, schrie sie wie ein Glockenklang aus endlos weiter Ferne. Es war eine Stimme, die vielleicht gar nicht existierte, eine Stimme, die von Angst erfüllt war und die mich mit Angst erfüllte.
    »Es tut mir leid«, sagte die Stimme.
    Jemand beugte sich über mich. Kam jetzt Hilfe oder würde ichumgebracht? Doch es wurden nur meine Finger von dem Herzen gelöst. Ich hörte ein leises Plätschern. Schritte. Und dann hörte ich   … nichts mehr.
    Jetzt war ich allein, versunken in meiner eigenen Stille.
     
    Ich konnte den Himmel sehen. Und obwohl ich meinen Hals nicht bewegen und meinen Kopf nicht heben konnte, erkannte ich schemenhaft eine Plakattafel am Henry Hudson Parkway. »Sie kommen spät nach Hause?«, stand dort. »Dann sagen Sie Ihrem T V-Rekorder , er soll schon mal ohne Sie anfangen.«
    Ich versuchte zu lachen, und weil es mir nicht gelang, schrie ich auf und rief: »Hilfe   … Hilfe   … Helfen Sie mir.« Doch der Verkehr war ohrenbetäubend. Konnte mich hier unter einem Brombeerbusch, wo ich wie ein Stück Müll liegen gelassen worden war, überhaupt jemand hören? Ich schrie, stöhnte, schrie erneut. Bei jedem Aufschrei fuhr mir ein schneidender Schmerz durch den Brustkasten. Dennoch holte ich Luft und schrie wieder und wieder und wieder   … bis

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