Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Babys nicht mit Wasser besprengt. Ich muss Jesus ja erst noch begegnen, aber andere in der Ewigkeit, Gläubige, treffen ihn ständig. Und hier würde er sicher willkommen geheißen.
»Und der Pate? Kommt er bitte zu uns?«, sagt der Geistliche.
Er steht auf, groß wie immer, nur die Augen sind tiefer eingesunken als damals, als sie noch in meine blickten. Er hat Annabel ihr ganzes Leben lang behütet und die Rolle des witzigen, weitgereisten Onkels kultiviert, der immer eine gute Geschichte und ein schönes Geschenk parat hat. Er ist ein Mann, der wenig verrät und den niemand kennt.
Ich hatte immer gehofft, Luke und Lucy würden sich zusammentun, doch dieser Wunsch entsprang wohl meiner Naivität. Eines Abends hatten sie beide mal viel zu viel getrunken und sich unüberlegt einem Ausbruch von Leidenschaft hingegeben, sich danach jedoch gegenseitig eingestanden, dass sie im Bett meine Anwesenheit gespürt hätten – obwohl ich gar nicht dort war! Sie kehrten noch rechtzeitig zur Freundschaft zurück und blieben in Kontakt, hauptsächlich über Postkarten mit kryptischen Nachrichten. Lucy hat vor vielen Jahren schon geheiratet. Ihr Ehemann istein bekannter Bildhauer und insgeheim ein bisschen eifersüchtig auf das Geheimnis, das seine Ehefrau und Luke Delaney teilen. Doch wiederum nicht so eifersüchtig, dass er aufhören würde, Lucy in atemberaubende Kunstobjekte zu verwandeln. Meine Schwester wurde geradezu geboren, um in Ton modelliert, aus Marmor gehauen, in Bronze gegossen zu werden. Jedes Kunstwerk, das er erschafft, zeigt ihre Stärke und ihre Entschlossenheit.
Und Luke? Ist er glücklich? Ich sehe ihn an und weiß es. Noch nicht.
»Annabel hat mich gebeten, ein Gedicht vorzulesen, das sie immer am Todestag ihrer Mutter rezitiert hat. Molly Marx«, sagt er, »war meine liebste Freundin.«
Annabel konnte dieses Gedicht nie vortragen, ohne in Tränen auszubrechen,
denkt er und fragt sich, ob er es kann. Annabel bittet ihn mit einem Lächeln, zu beginnen, und sowohl Luke als auch ich erkennen mein Lächeln in dem ihren.
»Wir werden getragen von einer Liebe, die unendlich ist.«
Ich kenne dieses Gedicht, ein Rabbi hat es geschrieben.
»Wir werden gehalten von Armen, die uns finden,
Auch wenn wir uns selbst verborgen sind.
Wir werden berührt von Händen, die uns besänftigen …«
Luke spricht die Worte in halbem Flüsterton. Er hat, als würde er selbst sich verbergen wollen, einen weichen, sorgfältig gestutzten Bart, ein dunkler Fleck in seinem markanten Gesicht, das langsam die weicheren Züge des Sechzigjährigen zeigt. Denn so alt wird er an seinem nächsten Geburtstag. Er sagt das Gedicht auswendig auf.
»Auch wenn wir zu stolz sind, uns besänftigen zu lassen.
Wir werden unterwiesen von Stimmen, die uns leiten,
Auch wenn wir zu verbittert sind, sie anzuhören.
Wir werden getragen von einer Liebe, die unendlich ist.«
Die kleine Molly regt sich. Meine Tochter schiebt das Häubchen zurück und betrachtet liebevoll das Gesicht des Babys. Sie hebt die Kleine an, damit Ewan ihr über die hellblonden Strähnen streichen kann. Leise wechseln sie ein paar Worte, doch in diese Innigkeit dränge ich mich nicht hinein. Mir genügt es, Molly und Annabel ansehen zu können.
Annabel, Ewan und Molly gehen den Mittelgang entlang und durch die geöffneten Türen hinaus, wo das Moos die alten Steine verbindet, so wie wir alle miteinander verbunden sind durch unsere Geschichten. Sie plaudern mit meiner Mutter und ihrem Ehemann, ihren Freunden, mit Barry, mit Hicks und Brie, mit Lucy, mit Luke, mit all den Menschen, die ich geliebt habe und die hier noch einmal zusammengekommen sind zu, wie meine Grandma Phyllis sagen würde, so einer großen Simcha.
Plötzlich legt Annabel Ewan die Hand auf den Arm und bleibt stehen. Sie dreht sich mit Molly um zu der Stelle, wo ich noch verweile, allein, hinten bei der Kapelle, neben einer uralten Eiche. Sie kneift die Augen suchend zusammen und lächelt mein Lächeln. Molly öffnet ihre Augenlider, die zart wie Schmetterlingsflügel sind. Unsere Blicke treffen sich und Liebe durchdringt uns so gewiss, als wäre es der Lebensstrom selbst. Ich weiß, dass Annabel weiß, und es ist genug. Es ist alles.
Dann blinzelt Annabel und kehrt in ihr Leben zurück.
Ich, Molly Marx, schon lange verstorben, werfe noch einen letzten Blick auf sie alle. Ich habe abgeschlossen. Vollständig. Jetzt kann ich in die Ewigkeit eingehen, was immer da auch kommen wird.
Können sie es
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