Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
noch?« Ohne großen Erfolg versucht sie, das Gestrüpp, das meinen Oberkörper verdeckt, beiseitezuschieben, während sie ihre Worte ein ums andere Mal wiederholt.
Ich weiß, dass sie um Hilfe rufen will, doch ihre Stimme versagt, bleibt lautlos, so als würde sie in einem Traum schreien. Sie holt ein Handy heraus, zieht die Handschuhe aus und wählt den Notruf 911.
»Ich bin im Riverside Park«, stößt sie hervor. »Hier liegt eine Frau – und ich weiß nicht, ob sie … noch lebt.«
Ich erfahre, dass mein Engel Angela heißt und an der Columbia University Philosophie studiert. Sie tut mir leid, denn nun wird der scheußliche Anblick meiner Leiche sie für den Rest ihres Lebens begleiten.
Die Polizei und die Rettungssanitäter treffen ein und stellen fest, dass ich schon seit einigen Stunden tot bin. Es gibt keine Unterlagen darüber, sagen sie später, dass ich vermisst gemeldet wurde.
3
Eine bewachte Wohnanlage
Ja, ich muss es zugeben. Ich werde in New Jersey beerdigt, der Heimat riesiger Discounterketten, schmutziger Ölraffinerien und eines Slangs, der in den Ohren wehtut. New Jersey, der Gartenstaat? Haha.
Meine Eltern wollten mich nach Chicago überführen lassen, damit ich in alle Ewigkeit glücklich neben Grandma Phyllis und Grandpa Louie ruhen könnte. Kitty hätte kein Problem damit gehabt, meinen Sarg wie einen Schrankkoffer auf Reisen zu schicken. Am Ende des Tages will sie selbst in der Koje neben ihrem einzigen Sohn liegen, vermute ich. Doch Barry erhob Einspruch gegen Chicago. »Molly ist eine Marx«, erklärte er. »Sie gehört in unser Familiengrab.«
Aber es gab natürlich einen Haken: In die Familienparzelle auf dem Beth-David-Friedhof nahe der Belmont-Rennbahn, wo Barrys Vater und seine Großeltern begraben sind, kann nur noch ein einziger weiterer Marx hineingequetscht werden. Also kaufte Barry mich schneller, als er sich für sein letztes Notebook entschieden hatte, in eine bewachte Wohnanlage ein: meine neue Heimat ist der Friedhof Serenity Haven. Nun werde ich auf ewig nur sechs Autobahnausfahrten von Ikea entfernt sein. Wie schade, dass ich keine Möbel mehr brauche, jetzt hätte ich jede Menge Zeit, um die Bauanleitungen zu enträtseln.
Draußen fängt es an zu regnen, es ist kalt. Die meisten Trauergäste verabschieden sich und kehren in ihr eigenes Leben zurück: ins Büro, zu Verabredungen zum Lunch, die Kinder aus dem Kindergarten abholen. Vor dem Eingang der Synagoge parken drei Limousinen. Barry, Annabel und Kitty steigen in die erste ein, meine Eltern und Lucy in die zweite, und ein paar weniger wichtige Marxes und Divines drängen sich in die letzte. Isadora und Brie brausen in einem dunkelgrünen Jaguar voraus, während mindestenszwanzig weniger exklusive Autos mit Freunden, Nachbarn, Verwandten und Kollegen dem Leichenwagen folgen.
Obwohl es erst halb zwölf ist, leuchten im Nieselregen Scheinwerfer auf, und ich fühle mich wie eine Tambourmajorin der Highschool-Blaskapellen, die wir bei der Parade zum Thanksgiving Day vor ein paar Monaten gesehen haben – von unserem eigenen Wohnzimmerfenster aus, von dem man einen wunderbaren Blick auf die Central Park West hat, und umgeben von einer großen, lärmenden Schar Gäste. Wegen Barrys wodkalastiger Bloody Marys – wohl kaum wegen des Riesen-Snoopy-Ballons in der Parade – sagen nur wenige Leute unsere alljährliche Einladung ab.
Ein vertrauter khakifarbener Jeep reiht sich in die stockende Wagenprozession ein, fährt dann aber abrupt bei der nächsten Ausfahrt vom Parkway ab. Hat der Fahrer die Nerven verloren oder hat ihn plötzlich der Drang gepackt, bei Fairway in der 125. Straße einzukaufen? In diesem Fall würde ich ihm die Zutaten zu einem dicken Gemüseeintopf empfehlen. Denn etwas Tröstliches kann er gebrauchen, glaube ich.
Es wäre vermutlich allen merkwürdig vorgekommen, wenn Luke sich dem Trauerzug angeschlossen hätte, allen außer mir. Denn ich hätte ihn gern dabeigehabt, in seinem schwarzen Mantel, der um seine langen Beine schwingt, und mit dem hellblauen Kaschmirschal, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe und der noch leicht nach meinem Parfüm riecht. Ob er geweint hätte? Schweigend vor sich hin geflucht? Sich meinen Eltern vorgestellt? Barry? Annabel? Hätte er Annabel an sich gezogen und geschluchzt? Wie hätte er seine Anwesenheit erklärt? Lauter Fragen. Zu viele Fragen.
Vielleicht ist es ganz gut, dass er nicht dabei ist, und außerdem sind wir jetzt auf dem Friedhof
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