Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
irgendwo da draußen sind und dies hören: Die Familie Divine wird Sie aufspüren!« Meine Schwester klingt, als hielte sie am Vorabend einer schicksalhaften Wahl eine flammende Rede.
Ruckartig kehrt die Aufmerksamkeit der Leute zurück. Dem Rabbi gefällt Lucys Ton nicht viel besser als das Gewisper, das seinen Gottesdienst durchzogen hat. Er eilt zu Lucy, und sie wirft ihm einen so grimmigen Blick zu, dass auch dem Letzten klar sein dürfte, was ihre letzten fünf Männer vertrieben hat. Sie starrt Barry in Grund und Boden, und er wagt es nicht, ihren Blick zu erwidern.
»Die Beerdigung selbst findet im engsten Kreis statt«, sagt der Rabbi eilig, »doch ab heute Abend wird im Hause Marx Schiwe gesessen.« Er nennt unsere Adresse, und dann steht plötzlich eine Fremde mit unverkennbarer Marx-Nase auf und beginnt zu singen.
» Did you ever know that you’re my hero, and everything I’d like to be?
«, schmettert die Blondine, die mir ein wenig ähnlich sieht, abgesehen von der Nase. Und als sie, begleitet von der Turboorgel der Synagoge, weitersingt, steigert sich ihre Stimme zu einem enormen Crescendo.
» I can fly higher than an eagle
«, trompetet sie, wohlwissend, dass ihr Weg an den Broadway längstan der Upper West Side geendet hat,
» ’cause you are the wind beneath my wings
.«
Wie sterbenspeinlich! Gott sei Dank liege ich schon im Sarg. Alle
meine
Freunde – ungefähr sechzig unter all den Anwesenden – und auch meine Eltern, meine Schwester, meine Tanten und Onkel sind furchtbar verlegen über diese Darbietung. Ist dieser kitschige Bette-Midler-Song etwa Barrys Vorstellung von einem Witz? Oder war das Kittys Idee?
Das bringt mich noch um. Das bringt mich um.
2
Ganz. Einfach. So.
Ich weiß nicht, ob ich tot bin oder lebe. Ich erinnere mich an fast nichts. Die Kirchturmspitzen der Riverside Church. Schmerzen überall. Eine lange, abgrundtiefe Dunkelheit. Minuten? Stunden?
So hatte ich das nicht geplant. Mein Fahrrad? Wo ist das eigentlich?
Ich höre den Fluss, gleichförmig wie einen Puls. Unwillkürlich zähle ich die Wellen, ihr Rhythmus ist der meines schwach schlagenden Herzens. Eins, zwei, drei … achtundvierzig, neunundvierzig … hunderteins, hundertzwei.
Kalt.
Kalt.
Kalt.
Schnee fällt. Flocken bedecken mein Gesicht.
So.
Verdammt.
Kalt.
Ich trage immer noch einen Fahrradhandschuh, doch er ist zerfetztund blutbeschmiert und wärmt meine erfrorenen Finger längst nicht mehr.
Noch.
Nie.
War.
Mir.
So.
Kalt.
Noch –
Ein letzter flacher Atemhauch, dann bin ich fort. Wie ein Blatt, das davonweht, wie Asche, die von einer Zigarette fällt, wie ein Tautropfen, der auf einem Blütenblatt verdunstet.
Ganz.
Einfach.
So.
Ich habe definitiv zu viele schlechte Filme gesehen. Es gibt überhaupt keine Reise durch einen Tunnel mit einem unheimlichen weißen Licht am anderen Ende, Harfenklängen und sahnefarbenen Wolken. Ich bin hinübergegangen, doch mich umgibt nichts als Dunkelheit und das Wuuusch-Wuuusch-Wuuusch des Verkehrs auf dem Henry Hudson Parkway.
Der Morgen dämmert. Keine drei Meter entfernt von der Stelle, wo ich liege, unter einem Gebüsch zwischen dem Steinufer des Hudson River und dem Fahrradweg, kann ich jetzt Jogger laufen hören. Zu dieser Jahreszeit und um diese Uhrzeit sind es nicht viele, und sie alle richten den Blick stur geradeaus, denn das hier ist nicht der Central Park, kein allgemein beliebter Treffpunkt. Der Weg ist einsam und schmal. »Nur ein Dummkopf geht dort joggen«, sagte Barry mal zu einem Freund, der ihm etwas von der ungetrübten Freude des Laufens am Fluss vorschwärmte. »Und ich verstehe auch nicht, wieso du dort Fahrrad fahren musst«, fügte er gleich noch an mich gerichtet hinzu.
Es war eine meiner Lieblingsstrecken, hinauf zur George Washington Bridge und dem kleinen roten Leuchtturm, der imSchatten der riesigen Brücke immer noch ein winziges Stück Land bewacht – mein persönlicher heiliger Rückzugsort. Ich liebte es, Annabel aus dem Kinderbuch ›Der kleine rote Leuchtturm‹ vorzulesen, so wie früher meine Mutter Lucy und mir daraus vorgelesen hat.
Es kommen immer noch Jogger, und dann höre ich ihre Stimme. »O mein Gott«, sagt sie, zuerst kaum vernehmbar, doch dann schreit sie die Worte heraus. Ihre Schritte kommen näher. Bei meinen Füßen steht eine Frau in engen schwarzen Jogginghosen und einem weiten Parka. Sie nimmt die Minikopfhörer ihres iPods aus den Ohren. »Hören Sie mich?«, schreit sie. »Leben Sie
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