Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Emma befürchtet hatte, war ihren inneren Stimmen Gelegenheit gegeben, ihr Zweifel einzuflüstern.
Sie wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt zu Hause war. Wahrscheinlich war er ausgegangen. In seinen Club. Oder mit irgendeiner Varietétänzerin unterwegs. Was wohl seine Bediensteten dachten, wenn Emma einfach so bei ihm auftauchte? Was war, wenn er sie gar nicht mehr wollte? Wenn sie den größten Fehler ihres Lebens beging?
Sie schob all diese Fragen beiseite. In dieser Nacht wollte sie eine richtige Frau werden. Emma legte sich die Hand auf den Bauch, dessen Gefühl ihr laut Harry stets die Wahrheit sagen würde. Sie hatte nicht das Gefühl, einen Fehler zu machen. Sie fühlte sich auch nicht sündig. Sie fühlte sich ... frei, ungezügelt. Zum ersten Mal glaubte Emma, sie selbst zu sein.
Aufregung und Furcht wechselten sich ab, sie empfand eine beinahe schmerzhafte Sehnsucht. Die Kutschfahrt dauerte eine Ewigkeit.
Sie öffnete das Fenster und streckte den Kopf in den Regen hinaus. Sie waren jetzt fast in der Regent Street. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Hanover Square.
Trotzdem schien noch einmal endlose Zeit zu vergehen, bis die Droschke in den Hanover Square einbog und vor der Nummer vierzehn anhielt. Emma konnte nicht sagen, wie lange die Fahrt nun wirklich gedauert hatte, aber sie gab dem Kutscher die halbe Krone zusätzlich, einfach, weil ihr danach war. Dann stieg sie aus, eilte auf die Haustür zu und betete darum, wenigstens einmal im Leben nicht zu spät zu kommen. Sie zog energisch am Glockenstrang.
Innen ertönte ein Läuten, und kurz darauf öffnete ein Lakai die Tür. Er sah sie erstaunt an. „Ja bitte, Miss?"
„Ich möchte Marlowe meine Aufwartung machen", sagte sie und trat mit einer Selbstverständlichkeit ein, als besuchte sie den Viscount täglich. „Ist Seine Lordschaft heute Abend zu Hause?"
Der Lakai betrachtete sie misstrauisch von Kopf bis Fuß. „Ich ... ich bin mir nicht sicher, Miss. Ich sehe gleich nach. Wen darf ich melden?"
„Sagen Sie ihm ..." Sie dachte einen Augenblick fieberhaft nach, was die Etikette wohl unter solchen Umständen vorschrieb. Ihr eigener Name kam nicht in Frage, ebenso wenig ihr Pseudonym. „Sagen Sie ihm, Scheherazade möchte ihn sprechen."
Der Lakai runzelte die Stirn, als sei sie nicht recht bei Trost, verschwand aber dennoch und ließ Emma allein in der Eingangshalle zurück.
An der gegenüberliegenden Wand war ein hoher Spiegel angebracht, der das Licht, das durch die beiden Fenster neben dem Eingang fiel, widerspiegeln sollte. Emma trat darauf zu und lachte lautlos auf.
Himmel, sie sah ja schrecklich aus. Kein Wunder, dass der Lakai sie so erstaunt angestarrt hatte. Der Rock klebte an ihren Hüften, und durch das tropfnasse Leinen ihrer Bluse zeichneten sich deutlich die verschiedenen Lagen ihrer Unterwäsche ab. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, die Haarkämme waren verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sie bei der Suche nach einer Droschke verloren, ohne es zu bemerken. Strähnen ihres offenen Haars klebten an ihrer Wange, der Rest fiel ihr nass und wirr über den Rücken. Um sie herum hatte sich auf dem goldfarbenen Mosaikfußboden bereits eine kleine Pfütze gebildet.
Emma verzog die Lippen zu einem wehmütigen Lächeln. In der Kunst der Verführung war sie eindeutig nicht sehr versiert. In dieser Hinsicht fähigere Frauen hätten mehr auf ihr äußeres Erscheinungsbild geachtet, bevor sie einen Mann besuchten, und erst recht, wenn dieser Mann geschworen hatte, sie nie wiederzusehen. Emma strich mit den Fingern durch ihr Haar, um etwas Ordnung in die wirren Strähnen zu bringen, aber vergeblich.
„Emma?"
Beim Ertönen von Harrys Stimme, sah sie ihrem Spiegelbild noch einmal fest in die Augen. Es gibt kein Zurück mehr, Emma, dachte sie, dann straffte sie die Schultern und wandte sich der breiten, gewundenen Treppe zu ihrer Rechten zu.
Er stand auf der untersten Stufe. Seine Hand ruhte auf dem kunstvoll geschmiedeten Eisengeländer, und sein Anblick machte sie noch unruhiger, da sie ihn nicht so unvollständig bekleidet erwartet hatte. Er trug nur eine dunkle Hose und darüber einen weinroten Hausmantel. Er hatte nicht einmal ein Hemd an, und sie konnte seine bloße Brust im Ausschnitt des Mantels erkennen. Ihr Herz begann zu rasen.
Er schaute sie ausdruckslos an, sein schmales, attraktives Gesicht verriet nichts. Kein leichtes Lächeln, keine neckenden Worte. „Ich dachte, wir hätten vereinbart, uns nicht mehr
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