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Ich muss Sie küssen, Miss Dove

Titel: Ich muss Sie küssen, Miss Dove Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lee
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andere von dir verlangen. Du missachtest deine wahren Gedanken zugunsten dessen, was als schicklich gilt. Du bist unehrlich im Herzen, und das ist die schlimmste Unehrlichkeit, die es gibt. Du bist so sehr darauf bedacht, dich wie eine Dame zu verhalten. Warum gestattest du dir nicht einfach mal, eine Frau zu sein?"
    Er ließ ihre Hände los, aber ehe Emma sich von ihm abwenden konnte, legte er ihr eine Hand auf die Wange, den anderen Arm um ihre Taille und küsste sie.
    Sie reagierte nicht und ertrug seine Umarmung mit einer gewissen Resignation. Sie leistete keine Gegenwehr, und in diesem Moment zerbrach etwas in ihm. Er küsste sie härter, fordernder, überwältigt von Lust, Zorn und völliger Verzweiflung.
    Eine Träne rann über seine Finger; sie brannte wie Feuer auf seiner Haut.
    „Gütiger Gott!" Er stieß Emma zurück. Wochenlang hatte er sich nun nach ihr verzehrt wie ein schmachtender Jüngling, und wozu? Damit er sich jetzt wie ein Bettler oder Grobian fühlte? Er musste sie sich aus dem Kopf schlagen. Sofort und für alle Zeiten.
    Er fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar, ordnete seine Kleidung und bemühte sich, in sachlichem Tonfall zu sprechen, obwohl er viel lieber irgendetwas zerschlagen hätte. „Ich werde dich nicht wieder berühren", erklärte er, während er zum Sofa ging, um sich seinen Gehrock zu holen. „Nie wieder. Wir werden die Mauer des Anstands wieder zwischen uns errichten und uns bemühen, uns wie oberflächliche Bekannte zu verhalten." Noch während er die Worte sagte, wurde ihm klar, wie unmöglich das sein würde. Er atmete tief durch. „Wenn ich es genauer bedenke, wäre es wohl am besten, wenn wir uns gar nicht mehr persönlich treffen, um über deine Arbeit zu reden. Was es zu klären gibt, kann brieflich oder über Kuriere erledigt werden." Er drehte sich um und trat zur Tür. „Auf diese Weise behältst du deine kostbare Tugend und ich meinen Verstand."
    Er riss die Tür des Salons auf und war nicht überrascht, Mrs. Morris in gebückter Haltung vor sich zu entdecken. Mit hochrotem Gesicht richtete sie sich auf. Harry verneigte sich und schritt wortlos an ihr vorbei. Was gab Emma nur auf die Meinung einer Frau, die Privatgespräche belauschte und durch Schlüssellöcher spähte? Es gab in der Tat viele Dinge, auf die Emma verdammt viel Wert legte und die er nicht nachvollziehen konnte.
    Er schlug die Haustür so kraftvoll zu, dass die Fensterscheiben leise klirrten. Tugendhafte Frauen waren wirklich Nervensägen.

17. KAPITEL
Ständig ein guter Mensch zu sein ist ein wahrlich schlechtes Geschäft.
    Miss Emmaline Dove, 1893

    Es fing an zu regnen. Von ihrem Platz am Schreibtisch aus sah Emma durch die offene Balkontür, die zur Feuerleiter führte, und beobachtete, wie sich die langen Vorhänge im Wind blähten. Sie wusste nicht, wie lange Harry nun schon fort war, aber ihr kam es vor wie ein halbes Leben. Ihr Leben. Während die Uhr die vergehenden Stunden schlug, zogen die Erinnerungen an Emma vorbei, eine nach der anderen.
    Weiße Kleider mit Schmutzflecken darauf, und Mamas besänftigende Stimme, mit der sie sich bei Papa dafür entschuldigte, dass Emmas bestes Sonntagskleid schon wieder schmutzig war. Nur stumm die Lippen bewegend, wenn im Gottesdienst Lieder gesungen wurden, um ja nicht Gottes Ohren durch ihren Gesang zu beleidigen. Das abgeschnittene Haar ... der Geruch eines verbrannten Buchs ... Papa am anderen Ende des Esstischs und ein Monat eisigen Schweigens.
    Emma berührte ihre Wange, und plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt, sodass sie kaum atmen konnte. Mit größter Willenskraft verbannte sie ihren Vater aus ihren Gedanken und dachte stattdessen an Tante Lydia. Das war schon besser. Emma fing wieder an, regelmäßiger zu atmen. Tante Lydia hatte wenigstens Zuneigung zeigen können. Tante Lydia hatte nie tagelang kein Wort mit ihr gesprochen. Tante Lydia, das wusste Emma ohne jeden Zweifel, hatte sie geliebt.
    Doch da waren auch Erinnerungen daran, gerade zu sitzen, Handschuhe zu tragen, nicht zu rennen, niemals gereizt und immer nur freundlich zu sein. Walzer tanzen immer nur mit einem Schritt Abstand zum Partner. Dessertgabeln haben über dem Teller zu liegen. Taschentücher werden niemals gestärkt. Gentlemen haben animalische Triebe. Menschen küssen sich nur, wenn sie verheiratet oder verlobt sind.
    Harrys Worte fielen ihr wieder ein, Worte, die schmerzten, weil sie wahr waren. Du bist nicht Mrs. Bartleby. Deine Tante Lydia ist Mrs. Bartleby

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