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Ich muss Sie küssen, Miss Dove

Titel: Ich muss Sie küssen, Miss Dove Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lee
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... Wo ist Emma? Was ist mit ihr geschehen? Wo ist das kleine Mädchen, das sich gern schmutzig gemacht und falsch gesungen hat?
    Emma wusste, was geschehen war. Im Austausch gegen Zuneigung und Anerkennung hatte sie den Preis gezahlt, sich Stück für Stück immer mehr selbst zu verlieren. Im Laufe vieler Jahre war ihr unbemerkt immer mehr von ihrer Persönlichkeit genommen worden, bis eine Frau übriggeblieben war, die halb verhungert, halb erstickt und nur noch halb am Leben war.
    Und dann hatte Harry sie geküsst, und alles war anders geworden. In diesem Moment war sie erwacht wie aus einem langen Winterschlaf. Voller Angst, j a, aber hellwach und voller Lebenslust — mit jeder Faser ihres Seins und bis in den letzten Winkel ihrer Seele. Trotzdem hatte Emma heute Abend all das Verlockende ausgeschlagen und sich stattdessen in die beruhigende Sicherheit des Vertrauten und des Gebilligten geflüchtet.
    Sie schloss die Augen, atmete tief durch und dachte an all die Dinge, die er mit ihr in seinem Büro gemacht hatte, an all das Schockierende, was er sich von ihr wünschte. Allein bei dem Gedanken glühte ihr Gesicht vor Scham — und vor Erregung.
    Geh mit mir nach oben in deine Wohnung.
    Sie hätte es getan, weiß Gott. Ihre lebenslang aufrechterhaltene Tugend war dahin geschmolzen unter den lustvollen, verbotenen Verheißungen eines Mannes. Aber sie hatte gewusst, dass ihre Vermieterin draußen an der Tür lauschte und wider alle Vernunft darauf hoffte, dass der Nichte der guten Lydia nun doch ein Heiratsantrag bevorstand.
    Plötzlich verspürte Emma das aberwitzige Bedürfnis, zu lachen. Wie entsetzt Mrs. Morris gewesen sein musste, die Wahrheit zu erfahren - dass der Viscount Emma einen ganz anderen Antrag gemacht hatte. Und wie schockiert sie gewesen sein musste, festzustellen, dass die Nichte der lieben Lydia in Wirklichkeit ein sinnliches, lüsternes Geschöpf war, das jedes Wort von seinem Verführer genossen hatte. Sogar die schmerzhaften Worte, die brutal, geradeheraus und wahr gewesen waren.
    Wo ist Emma? Was ist mit ihr geschehen?
    Eine Woge des Zorns überflutete sie mit einem Mal, wegen all der Dinge, die man ihr verweigert hatte. Ein Zorn auf all die Menschen, nach deren Liebe und Anerkennung sie sich so verzehrt hatte. Zorn auf sich selbst, weil sie so lange gebraucht hatte zu erkennen, wie reich das Leben in Wirklichkeit war, wie aufregend es war, Risiken einzugehen, und wie köstlich die Küsse und Liebkosungen eines Mannes sein konnten. Weil sie das alles aus Angst weggeworfen hatte.
    Jetzt war es zu spät. Emma drehte sich zur Seite und sah auf die Vase mit Pfauenfedern neben ihrem Schreibtisch, das Trostpflaster für ihren Geburtstag. Wieder einmal hatte sie damals abgewartet, bis es zu spät gewesen war.
    Immer nur ein anständiger Mensch zu sein, war wahrlich ein schlechtes Geschäft.
    Emma sprang auf, nahm ihr Retikül vom Schreibtisch, zog den Hausschlüssel daraus hervor und vergewisserte sich, dass sie genug Münzen für eine Mietdroschke dabei hatte. Sie blies die Lampe aus und machte die Balkontür zu, ließ sie aber bewusst unverriegelt. Sie verließ ihre Wohnung, schloss die Tür hinter sich ab und ließ den Schlüssel in ihren Beutel fallen.
    Ungesehen hastete sie die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße in den strömenden Regen. In ihrer Eile hatte sie ganz vergessen, einen Regenmantel anzuziehen und einen Schirm mitzunehmen, ja, sogar an ihren Hut hatte sie nicht gedacht, aber daran war nun nichts zu ändern. Sie würde nicht mehr zurückgehen.
    An der Ecke hielt sie inne. Sie strich sich mit der Hand über das regennasse Gesicht und sah die dunkle, menschenleere Straße entlang. Eine Droschke war nirgends in Sicht.
    Vor dem Holborn Hotel warteten immer Mietdroschken, also schlug sie diese Richtung ein, immer schneller laufend, bis sie fast rannte. Sie eilte die ganzen fünf Häuserblocks entlang, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben, bis sie atemlos die erste freie Droschke erreicht hatte. „Hanover Square, Nummer vierzehn", teilte sie dem Kutscher mit. „Und eine halbe Krone zusätzlich, wenn Sie eine halbe Stunde oder noch weniger brauchen."
    Sie stieg ein, und die Droschke setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Emma trommelte mit den Fingern auf ihren Knien, tippte mit den Füßen auf den Boden und rutschte unruhig auf ihrem Sitz herum, während die Minuten verstrichen. Die Kutsche schien sich im Schneckentempo in Richtung Mayfair vorwärts zu bewegen, und genau wie

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