Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Stadtwald gefahren, wo die 16jährige Michaela Kurth erdrosselt worden war. Hier ist man vermutlich einem Justizirrtum auf der Spur.«
»Elvira. ELVIRA!« Meckler konnte nicht recht glauben, was da geschrieben stand. »Elvira, komm doch endlich!« 16 lange Jahre hatte er diesen Tag sosehr herbeigesehnt wie nichts anderes. Endlich kam seine Frau aus der Küche. »Hier, lies das!« Elvira Meckler hatte stets an die Unschuld ihres Mannes geglaubt und ihn gegen alle Anfeindungen verteidigt – beherzt und unnachgiebig wie eine Löwin, die ihre Jungen beschützt. Jetzt schossen ihr die Tränen in die Augen. »Konrad.« Mehr brachte sie nicht heraus. Dann fielen sie sich in die Arme. Minutenlang hielten sie einander fest, eng umschlungen, hemmungslos schluchzend. Beide ließen sich von dem überwältigenden Gefühl berauschen, ihnen sei ein neues Leben geschenkt worden. »Elvira, jetzt wird alles gut!«
Bernhard Mischko hingegen, der ermittelnde Staatsanwalt, wollte einen »Justizirrtum« noch nicht bestätigen. Auf einer Pressekonferenz erklärte er: »Kroll hat uns zu einer Stelle geführt, die der Tatort sein kann. Wir waren echt auf die Führung von Herrn Kroll angewiesen, weil keiner der anwesenden Kriminalbeamten den Tatort kannte. Kroll hat den Ort genau gefunden und erkannt. Wir verschließen nicht davor die Augen, daß Kroll für Fälle verantwortlich sein kann, in denen andere verurteilt wurden. Aber es ist bisher unser Eindruck, daß wir an dem rechtskräftigen Essener Urteil keine Schelte üben können.« Doch Mischko versicherte: »Wir werden uns bemühen, diesen Fall ohne Ansehen der Person aufzuklären.«
Auch wenn jetzt ein glaubhaftes Geständnis vorlag, Konrad Meckler galt immer noch als Mörder von Michaela Kurth. Zumindest juristisch. Ob tatsächlich ein Justizirrtum vorlag, musste erst in einem weiteren Revisionsverfahren entschieden werden. Meckler durfte auf Gerechtigkeit hoffen – mehr nicht.
46
Joachim Krolls furchtbare Taten hatten tiefe Wunden geschlagen, die Angehörigen der Opfer unversehens in ein Chaos geschleudert, sie an den Rand ihrer Leidensfähigkeit geführt. Sie waren in ihrem Innersten getroffen worden, wie von einem gewaltigen Hieb irgendwo aus der Dunkelheit. Von ihren Lieben waren nur noch Erinnerungsfetzen übrig geblieben, die permanent durch das Gehirn rasten. Jählings hatte sich ein dunkler Abgrund aufgetan, die vertraute Welt ins Ungewisse verkehrt. Sie hatten sich dem Gefühl der Ausweglosigkeit ausliefern müssen, vollständig in der Hand eines unsichtbaren Feindes. Selbst das Prinzip Hoffnung war infrage gestellt worden.
Viele Jahre waren seitdem vergangen. Obwohl die Wunden inzwischen vernarbt waren, das Trauma der Maßlosigkeit, des totalen Übergriffs, war nur unzureichend verheilt. Unauslöschlich hatten sich die schmerzhaften Erinnerungen in das Bewusstsein eingebrannt. Nichts hatten die Mütter und Väter und Schwestern und Brüder der Opfer vergessen, aber es war ihnen gelungen, sich mit ihrem Schicksal zu arrangieren. Sie hatten einen Nichtangriffspakt geschlossen. Der Schmerz war nicht mehr bedrohlich akut, nicht mehr unabwendbar, aber immer noch fühlbar. Und dann hatte man ihn doch noch gefasst, den mutmaßlichen Mörder von Tanja Bracht, Monika Reimer, Ilona Dönges, Roman Berthold, Renate Göbel, Bettina Mertens, Frieda Pfundner, Martha Höller und Michaela Kurth.
Nun rissen die erschütternden Bekenntnisse dieses seelischen Invaliden alte Wunden wieder auf. Affekte und Empfindungen explodierten. Das innere Schutzschild erwies sich abermals als durchlässig. Einzelheiten, die den Angehörigen erspart geblieben waren, brachen über sie herein wie eine unvermeidbare Naturkatastrophe. Wieder wurden Seelen gemordet, der Albtraum kehrte zurück. Mit einem Mal wurde alles noch einmal so lebendig, als wäre es gestern passiert.
Vera Reimer hatte am Abend vor dem Tag, als ihre Tochter nach der Schule nicht mehr nach Hause gekommen war, noch mit Monika vor dem Fernseher gesessen. Sie hatten einen Bericht gesehen, in dem es um ein 13-jähriges Mädchen gegangen war, das im April 1962 erdrosselt worden war – auf einem Feldweg in Dinslaken, nur ein paar Kilometer von der Wohnung der Reimers entfernt. Es war Ilona Dönges, auch ein Kroll-Opfer. Vera Reimer hatte ihre Tochter eindringlich gewarnt, bloß nicht mit einem fremden Mann mitzugehen, egal was er sagen, egal was er
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