Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
»Bestie«.
Der Vorsitzende redete einfühlsam und leise mit Kroll. Doch das störte viele Zuschauer: »Mit dem Schwein soll man doch nicht umgehen, als wäre der aus Glas«, meinte einer empört. Aber dem Hassobjekt Kroll war auch bei aller Behutsamkeit nur wenig zu entlocken. Er hatte nie gelernt, eine Meinung zu haben und zu vertreten. Zeitlebens hatte er gekuscht, sich verkrochen. Kroll konnte über sich selbst gar nicht kritisch urteilen. Er schilderte sein Leben, als wäre es das eines Fremden.
Die übergroße Verunsicherung war ihm stets anzumerken. Er wusste oder verstand nicht, was der Richter von ihm hören wollte, und er wusste ebenso wenig, was er sagen durfte. Hin und wieder lachte er nervös auf, wenn der Richter konsequent nachfragte. Undeutlich wurde er vornehmlich, wenn es eindeutig wurde, er Stellung beziehen sollte. Der schmächtige Mann mit dem fahlen Gesicht strapazierte die Geduld des Gerichts fortwährend mit Plattitüden und schwammigen Antworten. »Joo, vielleicht, weiß nich’«, hieß es dann. Oder: »Kann sein.« Der Rest war oft ein leises Gemurmel, das niemanden im Gerichtssaal mehr erreichte.
Auch den vermeintlichen Ursprung und Auslöser allen Übels vermochte er nicht einzuordnen. Kroll konnte zunächst nicht sagen, ob er »nervös« geworden war, bevor ihn das »komische Gefühl« überkommen hatte oder ob es umgekehrt gewesen war. Erst nachdem Richter Schimmann mehrfach nachgefragt hatte, entschied er sich: »Das Nervöse kam vorher.« Um dann doch wenig später wieder einzuschränken: »Bin mir aber nich’ ganz sicher.« So ging es hin und her.
Die Ursache für sein mörderisches Verlangen konnte Kroll erwartungsgemäß nicht benennen oder auch nur vage beschreiben, aber bereits als junger Mann wollte er von düsteren Vorahnungen heimgesucht worden sein: »Da hab’ ich Angst vor mir selbst gehabt, dass ich mal jemanden umbringen könnt’.« Kroll fehlte der Überblick, die Fähigkeit, Ereignisse im Zusammenhang zu sehen. Daraus, dass er auf der Straße statt zu Hause aufgeklärt worden war, dass ihn die Mitschüler gehänselt und die Frauen meistens nur ausgelacht und verspottet hatten, dass er in einen sexuellen Not- und Ausnahmezustand geraten war und sich notgedrungen mit Tieren und Puppen hatte abgeben müssen, konnte er keine Kausalitäten seiner Probleme herleiten. All das summierte, deklarierte und etikettierte er der Einfachheit halber unreflektiert als »komisches Gefühl«. Kroll konnte lediglich die körperlichen Symptome seiner psychischen Erkrankung beschreiben. Die laut Anklage »schwere seelische Abartigkeit« war für ihn ein »Kribbeln« oder »Schweißausbrüche« oder Atemnot: »Ich musste dann raus oder hab’ das Fenster aufgemacht.«
Jemand musste gelogen haben. Das Gericht kam an dieser Tatsache nicht vorbei. Es musste nun herausfinden, wem geglaubt werden durfte. Den Duisburger Kripobeamten, die Kroll vernommen hatten und nun behaupteten, er habe alle Taten »aus freien Stücken« und »ohne Druck« gestanden? Oder doch dem Angeklagten? Der hatte sich angeblich während der Verhöre immer mal wieder hinknien müssen, wenn dem Chef der Mordkommission die Aussagen zu dürftig gewesen seien. Alle Geständnisse habe die Kripo erzwungen, insistierte Kroll immer wieder. Durch »Drohungen«, sogar durch »Schläge«.
Oder hatte der labile »Grenzdebile« (Kroll war bei entsprechenden Untersuchungen ein Intelligenzquotient von 78 bescheinigt worden; damit lag er zwischen den Intelligenzgraden »geringe Intelligenz/Dummheit« [IQ 80-89] und »Schwachsinn bis Idiotie« [IQ unter 69]) gegenüber der Mordkommission sich auch zu Taten bekannt, die er gar nicht begangen hatte, um gefällig zu sein oder um seine Ruhe zu bekommen? Könnte er nicht gespürt haben, was die Beamten von ihm hatten hören wollen? Hatte er die »netten Polizisten« nur nicht enttäuschen wollen? Vollkommen unmöglich erschien das nicht. Also musste nachgefragt und nachgeforscht werden.
Die Widerrufung der Geständnisse – nur der Mord an Tanja Bracht blieb ausgenommen – zwang das Gericht zu einem mühseligen und zeitraubenden Indizienverfahren. Alle »Vernehmungsbeamten« mussten ausgiebig gehört und zu ihren Methoden der Wahrheitsfindung befragt, alle Protokolle minutiös erörtert werden. Zudem wurde ein »aussagepsychologischer« Gutachter beauftragt, dem Wahrheitsgehalt der Kroll‘schen Behauptungen nachzuspüren.
Auch Kroll musste sich Fragen und Vorhaltungen gefallen
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