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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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dann auf einem großen weißen Plakat am Gerichtseingang, wenn Unerträgliches und Unzumutbares zur Sprache kommen sollte. Selbst abgebrühten Gerichtsreportern verursachten unzählige grausame Details eine Gänsehaut, viele hatten Mühe, sich zu beherrschen. Die Journalisten legten oft ihre Kugelschreiber einfach beiseite, weil sie wussten, dass sie bestimmte Einzelheiten ohnehin nicht bringen konnten. So bat beispielsweise die Neue Ruhr Zeitung ihre Leser um Verständnis: »Die NRZ hat sich entschlossen, die im Kroll-Prozess zur Sprache kommenden schrecklichen Einzelheiten der Morde nicht zu veröffentlichen – auch aus Rücksicht auf die Angehörigen.«
    Weil der Angeklagte nur flüsterte und nuschelte, hatte man ihm ein Mikrofon vor die Nase gestellt. Alle Aspekte mussten im Frage-Antwort-Spiel erörtert werden. Denn Kroll war kaum in der Lage, mehr als einen Satz zusammenhängend zu formulieren. Insbesondere wenn es um seine verkrüppelte und entartete Sexualität ging, wurde der Angeklagte verlegen und wortkarg.
    Richter Schimmann: »Wurden Sie zu Hause aufgeklärt?«
    »Nee.«
    »Aber Sie hatten doch Schwestern, Brüder, wohnten in einer kleinen Wohnung.«
    Schweigen.
    »Herr Kroll, sprechen Sie ein offenes Wort! Wie war das denn?«
    »Darüber wurde nich’ gesprochen.«
    »Hatten Sie Kontakt zu Mädchen als junger Bursche?«
    »Nee.«
    »Haben Sie denn im Winter keine Schlittenfahrten gemacht? Da konnte man doch fast unbeabsichtigt mal ein Mädchen anfassen, wenn das vor einem saß.«
    »Nee, ging nich’.«
    »Herr Kroll, was soll das heißen? Warum ging das nicht?«
    »Die saßen doch immer hinter mir. Ich war der Lenker.«
    »Wie war das denn auf den Dorffesten?«
    Kroll dachte lange nach. Minuten später sagte er schließlich doch etwas: »Tanzen konnt’ ich nich’. Hab’ Bier getrunken. Mit Mädchen geredet.«
    Richter Schimmann hakte nach: »Mehr nicht?«
    »Nee.«
    »Haben Sie denn bis dahin nie ein Mädchen gehabt?«
    »Nee.«
    »Hat Sie das denn nicht gewurmt?«
    »Doch, schon.«
    »Herr Kroll, Sie hätten doch etwas dagegen unternehmen können!«
    Achselzucken in der Anklagebank. Dann: »Was sollt’ ich denn machen.« Kroll schlug die Hände vor das Gesicht.
    »Ja, warum haben Sie denn immer alles geschluckt?«
    Wieder ließ die Antwort auf sich warten. Schließlich murmelte Kroll verständnislos: »Aber das musste ich doch.« Er war der geborene Geradesteher und Kopfhinhalter.
    Fast konnte man mit dem Angeklagten ein wenig Mitleid haben. Kroll hatte an Frauen gedacht, und weil er so scheu und so schüchtern gewesen war, hatte er sehnlichst darauf gewartet, angesprochen zu werden. Aber es war niemand gekommen, um den hässlichen Frosch zu küssen und zu erlösen.
    Auch seine dürren Aussagen zum Eltern-Sohn-Verhältnis wirkten merkwürdig oberflächlich, stumpf, unbestimmt. Angeblich sollte die Beziehung zu Mutter und Vater »gleich gut« gewesen sein. Doch dann verriet er sich bei anderer Gelegenheit. Ob der Vater 1954 gestorben sei, fragte ihn der Vorsitzende. Seine Antwort: »Ja, ich glaub’ schon.« Aber den Todestag seiner Mutter wusste er hingegen spontan zu sagen: »21.1.55.«
    Das Gericht gab sich alle Mühe, dem konturenlosen Bild des Angeklagten Tiefenschärfe zu geben. Man wollte mehr über diesen komischen Kauz erfahren, der seine Augen mittlerweile hinter einer getönten Brille verbarg und zu einer brauchbaren Selbstbeschreibung nicht fähig war. Seine Geschwister wollten dabei auch nicht behilflich sein, sie erschienen zwar im Gerichtssaal, machten dann aber von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch – als »Verwandte in gerader Linie« des Angeklagten waren sie nach Paragraph 52 der Strafprozessordnung nicht verpflichtet auszusagen. Kroll würdigte seine Brüder und Schwestern keines Blickes.
    Nachbarn, Arbeitskollegen und Bekannte konnten sich dieser unbequemen Pflicht nicht entziehen. Die meisten Zeugen beschrieben Eigenschaften und Gewohnheiten, die viele im Gerichtssaal irritierten: Ein stiller, zurückhaltender, freundlicher Nachbar sei Kroll gewesen, stets hilfsbereit. Und er habe sich »auf Kinder verstanden«, ihnen sogar Spielzeug und Süßigkeiten zugesteckt. Natürlich war dieser Kroll dem einen oder anderen schon immer etwas »unheimlich« vorgekommen, in manchen hatte er nur Mitleid hervorgerufen, und ein Nachbar befand kurz und bündig: »Er is’n Schleicher gewesen.« Zwei Gesichter eines »zärtlichen Zerstörers«: der »liebe Kerl« und die

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