Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Anklagebank. Dort hockte ein zusammengesunkenes Häufchen Mensch, ein Angeklagter ohne Gesicht. Die Menge aber verlangte nach einem schaurigen Spektakel. Schließlich hatten viele Zeitungen es doch so angekündigt. Aber der erwartete und erhoffte Sinnesrausch konnte einfach nicht stattfinden, schnell machte sich allgemeine Ernüchterung breit: »Das ist doch nur ein Handtuch«, »Halbe Portion«, »Würstchen«. Man hatte sich einen »Massenmörder« ganz anders vorgestellt: groß, kräftig, charismatisch, angsteinflößend, schrecklich. Und jetzt kauerte auf dem Anklagesitz das graue Männlein Joachim Kroll – die hilflos anmutende Karikatur des erwarteten »Unholds teuflischen Formats«, der angeblich »direkt aus der Hölle« kam.
Nach 16 Minuten ebbte das Interesse der zwei Dutzend Fotografen und Kameraleute allmählich ab. Erst als der Vorsitzende Paul Schimmann den Prozess eröffnete, lockerte sich der feste Griff des Angeklagten. Manche Besucher stellten sich jetzt auf die Bänke. Ungeduldig erwarteten alle die Demaskierung der »Mörderbestie«. Und als endlich sein Gesicht zum Vorschein kam, zeigten sich die meisten wieder enttäuscht. »Der sieht ja gar nicht aus wie ein Ungeheuer.« Ein Hinterbänkler hatte seine Verwunderung in Worte gekleidet und dabei ausgesprochen, was die meisten im Saal dachten. Kroll war von Kopf bis Fuß eine unscheinbare, unauffällige Erscheinung. Der signalrote Pullover war das einzig Auffällige an ihm.
Der Vorsitzende hatte wohl ärgere Zeichen des Volkszorns erwartet. Zum Schutz des Angeklagten hatte er zusätzliches Personal Posten beziehen lassen. Zwei Polizisten behielten mit dem Rücken zum Richtertisch postiert das Publikum im Auge. Jeder Zuhörer war zudem an der Saaltür durchsucht worden. Die notwendige Kabine und das elektronische Abtastgerät waren eigens vom Düsseldorfer Flughafen herbeigeschafft worden.
»Und nun, Herr Kroll, zu Ihrer Person«, begann Richter Schimmann Fragen zu stellen. Kroll erstarrte wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. In seiner für ihn typischen Haltung stand er in der Anklagebank: den Rücken nach vorn gebeugt, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Vorsitzenden ängstlich anschauend. Im bleichen, ausgemergelten Gesicht des Angeklagten mischte sich Nervosität mit Unbeholfenheit, als er die Vorlesung zu seinen Personalien mit unmoduliertem »Ja« oder »Nein« bestätigte. Nach seiner Ausbildung befragt, antwortete Kroll nur leise: »Höchstens Landwirtschaft, aber hab’ ich nich’ ausgelernt.«
Dann war die Staatsanwaltschaft an der Reihe. Obwohl die Taten seit drei Jahren bekannt gewesen und Einzelheiten mitunter wie auf einem Jahrmarkt feilgeboten worden waren, wurde es im Gerichtssaal totenstill, als Oberstaatsanwalt Rudolf Hölting die Anklageschrift verlas. Die Zuhörer kommentierten die Chronik des Grauens wellenartig mit empörtem Geraune und qualvollen Seufzern, eine Schöffin brach in Tränen aus. Nur einer der Anwesenden wirkte unbeteiligt: der Angeklagte. Kroll lauschte scheinbar gelangweilt, schaute mal zum Gericht, mal zu den Staatsanwälten, mal zum Fenster hinaus. Seine Pose glich der eines mäßig interessierten Besuchers einer ermüdenden Vortragsveranstaltung. Nur den Blick ins Publikum wagte er nicht – wohl aus Furcht vor den Drohgebärden und Anfeindungen der Angehörigen seiner Opfer.
Für die Aneinanderreihung von acht Morden und einem Mordversuch, allesamt verübt nach »eigenem sexuellem Versagen« und »im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit«, benötigte Hölting nicht mehr als zehn Minuten. Die Anklage attestierte Kroll zudem eine »schwere seelische Abartigkeit infolge eines frühkindlichen Hirnschadens«.
Der Vorsitzende wollte nach nicht einmal 30 Verhandlungsminuten den ersten Prozesstag schon beenden, da meldete sich einer der Verteidiger zu Wort: »Mein Mandant möchte eine Erklärung abgeben.«
Kroll stand auf. Nervös steckte er die Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder hervor, faltete sie dann. »Sie können sitzen bleiben«, beschied ihn der Richter. Aber Kroll wollte stehen. Vielleicht hatte er sich das vom Staatsanwalt abgeguckt, vielleicht fiel ihm das Reden im Stehen einfach leichter. Kroll begann zu erzählen: leise, ausdruckslos, stockend, zusammenhanglos – wie ein Mann, der nie etwas zu sagen, der immer nur Anweisungen zu befolgen hatte. Von »Sauereien« war die Rede, die sein Anwalt Dietrich Lazarz »getrieben« haben sollte. Zum
Weitere Kostenlose Bücher