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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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Bursche, die harte körperliche Arbeit führte ihn regelmäßig an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Wenn er nicht mehr konnte, dann klagte er über Magenschmerzen. Oder über Kopfweh. Oder ihm war übel. Die anderen Knechte mussten seine Arbeit mit erledigen. Anfangs ohne Murren, später widerwillig. Nach drei Wochen war er der »Drückeberger«.
    Auch Wilhelm Kuczera, dem Bauern, waren diese Merkwürdigkeiten nicht entgangen. Er sprach mit seiner Frau darüber. Ihr Urteil war vernichtend: »Der taugt doch nischt!« Eine Bewährungschance sollte er nicht bekommen. Der »Faulpelz« musste den Hof verlassen, nach nur einem Monat.
    Der Rauswurf ärgerte ihn. Er hatte ein Dach über dem Kopf gehabt, regelmäßig Mahlzeiten bekommen, ein paar Mark verdient. Jetzt stand er wieder mit leeren Händen da, nur den abgewetzten braunen Reisekoffer samt Inhalt durfte er sein Eigen nennen. Zukunftsängste entwickelte er indes kaum. Er war nicht imstande, perspektivisch zu denken oder gar Visionen zu entwickeln. Er dachte und plante kurzfristig, von Tag zu Tag. Zudem hatte Wilhelm Kuczera ihm wohlmeinend geraten: »Versuch’s doch mal in Böhlen.«
    Der Braunkohlentagebau ernährte dort gut 30000 Bergleute und Energiewerker. Die knapp 5000 Einwohner zählende Gemeinde, 15 Kilometer südlich von Leipzig auf einer Anhöhe des Schwarzatals gelegen, war in erster Linie Schlafstadt und »Werk«.
    Das Landschaftsbild in der Region rings um Böhlen, später »Südraum Leipzig« genannt, wurde dominiert von Brikettfabriken, Schornsteinen, Kraftwerken, riesigen Tagebauen mit eigenen Schienennetzen und wachsenden Abraumhalden. Luft, Wasser und Boden waren hochgradig verschmutzt; Dörfer, Straßen, Wälder oder Kulturgüter wurden bei Bedarf bedenkenlos überbaggert.
    Ihm war Ähnliches widerfahren. Zeitlebens war er fremdbestimmt und ausgebeutet worden, fortwährende Geringschätzung und Missachtung hatten seine Persönlichkeit ausgehöhlt, deformiert, tiefe Krater gerissen. Die Wunden waren vernarbt, aber nicht ausgeheilt. Er blieb ein seelisches Wrack, verschlossen, gehemmt, Schutz in der Anonymität suchend. Er wollte nicht auffallen, er wollte nicht zur Kenntnis genommen werden, er wollte für sich sein. Und er passte irgendwie in diese Einöde, über die schon im Jahre 1905 der Publizist Ludwig Bräutigam geurteilt hatte: »Ich habe noch niemals Lobpreisungen dieses Erdstrichs gelesen. Getadelt wird er eigentlich auch nicht. In landschaftlicher Hinsicht ist ihm das Schlimmste widerfahren: man spricht überhaupt nicht von ihm.«
    Schon zwei Tage nach seinem Rausschmiss in Borsdorf fand er eine neue Anstellung. Wilhelm Kuczera hatte Recht behalten. Die Braunkohlen- und Brikett-AG wollte ihn als Rangierer entlohnen. Sein Revier wurden die werkseigenen Gruben- und Verbindungsbahnen, über die der Transport der Kohle in die Fabriken und Kraftwerke erfolgte. Das behagte ihm. Er würde nicht wie in Bottrop Kohlen schleppen müssen. Auch mit seiner Unterkunft war er einverstanden, einem Doppelzimmer im »Ledigenheim« seines Arbeitgebers in Böhlen. Dort wohnte er allein, das zweite Bett blieb zunächst leer.
    Das war er nicht gewohnt, das hatte er auch nicht erwartet. Deshalb blieb er zunächst misstrauisch. Wie immer. Denn Vergleichbares hatte er nur einmal erlebt, mit Rita. Und dann war er doch gedemütigt worden, auch von Rita. VERSAGER. Er war nicht nur deswegen sehr vorsichtig geworden. Aber auch jetzt empfand er wieder etwas, für das es in seinem außerordentlich knapp bemessenen Wortschatz keine Entsprechung gab. Es war nicht nur eine verlockende Vorstellung, es hätte eine Bestätigung sein können, ein Sieg, vielleicht sogar ein Triumph. Schließlich hatte er sich das nicht eingebildet oder nur davon geträumt, es war tatsächlich passiert. Er hatte es geschafft. Wenn er sich jemandem hätte mitteilen, wenn er das Erlebte in Worte hätte kleiden sollen, es wäre »schön« gewesen – eine glatte Untertreibung, aber genauer hätte er sich nicht ausdrücken können. Dass niemand danach fragte, störte ihn nicht. Aber dass er nicht den Mumm aufbrachte, diese betörende Empfindung zuzulassen, sie auszukosten oder für eigene Zwecke auszuschlachten, war »nicht schön«.
    Er hatte jetzt endlich einen Job. Zudem fand er mit seinen neuen Kollegen ein Auskommen. Und er hatte ein Zimmer für sich. Er würde so viel Geld verdienen wie nie zuvor. Er hatte eine Perspektive. Er hatte es allen gezeigt, sie widerlegt. Auf das Erreichte

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