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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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missbrauchten – so, wie er das gemacht hatte. Und er hatte begriffen, dass er einen Schritt weitergegangen war. Was machen die dann erst mit MIR, wenn die mich kriegen? Immer, wenn diese Befürchtung von ihm Besitz ergriff, fiel ihm siedendheiß die Drohung des Prügel-Polizisten ein: Mit so einem machen wir kurzen Prozess! Und dann würden sie auch ihn totschlagen.
    Wie die Kripo in solchen Fällen vorging, wusste er nicht. Er hatte aber gelernt, dass diese Polizisten keine Uniformen trugen. Das irritierte ihn. Er konnte den Feind nicht erkennen. Jedem Fremden, dem er begegnete, jedem Unbekannten, dem er die Wohnungstür öffnete, musste er misstrauen. Es konnte mit einem Mal vorbei sein. Das war anstrengend. Das war unerträglich. Fieberhaft überlegte er, suchte nach einem Ausweg aus diesem Dilemma.
    Schließlich deutete sich so etwas wie eine Lösung an. Je weiter ich weg bin, desto besser für mich. Dieser Grundgedanke leuchtete ihm ein. Er musste also die Stadt verlassen, besser noch das Land. Diese Idee beflügelte ihn, sie machte Mut, er schöpfte neue Hoffnung. Aber wohin er gehen sollte, dazu wollte ihm partout nichts einfallen. Und da gab es noch etwas, dass all seine Fluchtpläne zu vereiteln drohte. Er war pleite, lebte vom knapp bemessenen Taschengeld seines Vaters. Dessen Ultimatum hatte er nicht vergessen: »Wenn du nicht in Arbeit kommst, schmeiß’ ich dich raus!«
    Er ging zum Arbeitsamt in Bottrop. Unverhofft traf er dort seinen ehemaligen Kumpel Friedhelm Kuczera. Sie waren in ihrer gemeinsamen Zeit auf der Zeche »Prosper II« keine Freunde geworden, aber sie respektierten einander. Während der Busfahrten hatten sie dann und wann gequatscht und dabei, jeder für sich, Gemeinsamkeiten ausgemacht. Der 24-jährige Kuczera war ledig, wohnte noch bei seinem Onkel und galt nach einem Arbeitsunfall als »schwer vermittelbar«. Aber er hatte Zukunftspläne.
    »Wenn hier für mich nix zu kriegen is’, hau ich in’n Sack. Drüben haben meine Eltern ’nen Hof, der geht gut.«
    »Wo soll’n das sein?«
    »Ostzone, DDR. Kennst’ Leipzig?«
    Er schüttelte mit dem Kopf.
    »In ’nem Vorort. Is’ nich’ weit von der tschechischen Grenze weg. Wir suchen immer Leute, die ordentlich anpacken können. Kannst ja mal drüber nachdenken.«
    Diese Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es war genau das, wonach er gesucht, worauf er gehofft hatte – eine Fluchtmöglichkeit. Er könnte sich aus dem Staub machen, er könnte alles hinter sich lassen. Dann bin ich frei!
    Zwei Tage später besuchte er Friedhelm Kuczera. Der versicherte, bei seiner Mutter nachfragen zu wollen. Jetzt war er ganz nah dran, das spürte er. Bald würde er sich seinem unbequemen, ungeliebten Vater nicht mehr beugen müssen. Und er wäre seine unsichtbaren Widersacher los, ein für allemal. Davon war er überzeugt.
    Die erlösende Nachricht erreichte ihn am 30. März 1955: »Meine Eltern erwarten dich. Viel Glück!« Das fehlende Geld klaute er seinem zweitältesten Bruder, 300 Mark hatte er nun zur Verfügung. Das war genug. Noch am selben Tag machte er sich auf den Weg. Wohin es gehen sollte, wusste nur Friedhelm Kuczera.
    Am 1. April erreichte er seinen Bestimmungsort. Der Bauernhof zählte zur sächsischen Gemeinde Borsdorf, gut zehn Kilometer von Leipzig gelegen. Er wurde herzlich aufgenommen, eine für ihn ungewohnte Erfahrung. 280 Mark Lohn sollte er monatlich bekommen. Davon wurden 50 Mark für Kost und Logis einbehalten. Die kleine Kammer im Haupthaus musste er sich mit einem anderen Knecht teilen. Das störte ihn – obwohl er es nicht anders gewohnt war.
    Knapp vier Wochen waren nun vergangen, seit er Renate Göbel umgebracht hatte. Erstmals fühlte er sich vollkommen sicher.
    Auf dem Hof war immer reichlich zu tun, täglich mindestens zwölf Stunden hatte er zu arbeiten, meistens auch samstags und sonntags. »Freizeit« gab es selten. Seine Aufgaben waren eher schlichter Natur. Er schleppte und zersägte Holz, das gebraucht wurde, um Schäden an Haus, Scheune und Ställen auszubessern. Er reinigte die Wassergräben auf Äckern und Feldern. Er ging dem Bauern beim Düngen und Aussäen zur Hand. Auch im Bauerngarten musste er zupacken: Mulchschichten entfernen, den Boden lockern und glatt rechen, das sprießende Unkraut jäten. Freude empfand er dabei nicht, insbesondere das frühmorgendliche Aufstehen fiel ihm schwer. Doch er bemühte sich.
    Manchmal wurde es ihm dennoch zu viel. Er war immer noch ein hagerer

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