Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
nich’ mit Absicht gemacht. Konnt’ doch nix dafür. Is’ doch ungerecht. Das hätt’ ’nem anderen auch passieren können.
Zwei mal zwei Meter waren ihm von seiner Freiheit geblieben. Die einzige Abwechslung in diesem mittelalterlich anmutenden Verließ waren die große Blechschüssel, in der er seine Notdurft zu verrichten hatte, und die unbequeme Pritsche, auf der er lag.
Hab’ mich doch entschuldigt. Das andere konnt’ ich doch nich’ sagen. Die hätten mich doch sofort totgeschlagen.
Ja, ich musst’ wieder an die Sache denken, als das passiert ist. Deshalb war ich auch so nervös. Und dann hab’ ich das Ding einfach vergessen. Kann doch mal vorkommen, verdammt! Is’ doch auch nich’ viel passiert.
Er drehte sich auf die Seite. Eine Decke hatten sie ihm nicht gegeben. Es war kalt. Er drängte sich ganz nah an die Zellenwand. Das Gekritzel dort konnte er nicht lesen. Vielleicht würde er sich morgen damit beschäftigen, wenn es hell war. Dann holten ihn seine düsteren Gedanken wieder ein.
Was is’, wenn die kommt und sich die Leute hier anguckt! Und der Typ mit dem Auto hat mich auch gesehen. Was is’, wenn die mit dem Finger auf mich zeigen! Der da, der war’s. Die kriegen das doch raus. Und ich komm’ hier nich’ weg. Wieso hab’ ich den übersehen, warum hab’ ich den nich’ gehört? War doch keiner da, nur ich und die. Kacke!
Plötzlich ein Geräusch. Er zog die Knie an. Jemand war an der Tür. Mit lautem Getöse wurde der Sehschlitz aufgerissen. Das Licht einer Taschenlampe suchte sich ein Ziel und verharrte für einige Momente auf seinem Gesicht. Er zeigte keine Reaktion, tat so, als würde er schlafen. Der Lichtstrahl verschwand, der Riegel wurde wieder vorgeschoben. Erst als er sich entfernende Schritte hörte, öffnete er die Augen. Er starrte auf die Stäbe, die das winzige Zellenfenster vergitterten.
Warum musste dieser Blödmann sich auch einmischen! Wollt’ wohl ’nen Helden spielen. Hätt’ doch auch vorbeifahren können. Hat der mein Gesicht gesehen? Hab’ mich doch immer geduckt, weggedreht. Außerdem war’s doch stockduster. Der kann mich doch gar nich’ gesehen haben. So richtig. Das ging doch alles ruck, zuck. Und die blöde Kuh hat immer nur geschrien, mit ’n Armen so rumgefuchtelt. Aber hübsch war se. Die langen lockigen Haare, nettes Gesicht. Mehr hab’ ich ja nich’ gesehen. Leider! War einfach zu dunkel. Die hätt’ mir aber wohl gefallen. Die hätt’ ich gern gepoppt. Und dann hätt’ ich se kaputtgemacht. Verdammte Kacke!
Irgendwann schlief er ein.
Das Kreisgericht Leipzig hatte ihn in die Strafvollzugseinrichtung Torgau geschickt. In »Fort Zinna«, ehemals sächsische Landesfestung und später Militärgefängnis der Nazis und Sowjets, wurden seit 1950 auch »Staatsfeinde« zwangskaserniert. Der Mord an Renate Göbel war ihm nicht vorgeworfen worden, auch nicht der gescheiterte Überfall auf die junge Frau in Zwenkau. Man hatte ihn nach Paragraph 104 des Strafgesetzbuches der DDR abgeurteilt. Eine Gedankenlosigkeit war ihm zum Verhängnis geworden. Der »Tatbestand«: Als Rangierer hatte er vergessen, einen Hemmschuh von den Gleisen zu nehmen. Deshalb waren zwei Waggons eines Braunkohlenzugs aus den Schienen gesprungen. Er sollte dieses Unglück »vorsätzlich herbeigeführt« haben – also »Sabotage«. Flugs war aus dem unscheinbaren Nischenmenschen, der gesellschaftliche wie politische Geschehnisse und Zusammenhänge vollends ignorierte, ein »Kollaborateur« geworden.
Und dabei wäre aus seiner Sicht alles vermeidbar gewesen. Wenn er den Polizisten, den Stasi-Handlangern, dem Staatsanwalt oder dem Richter nur hätte erklären können, wie es wirklich gewesen war, warum er nicht aufgepasst hatte: dass er sich erst kräftig geärgert hatte; weil er der jungen Frau so nahe gekommen war, ohne sie tatsächlich zu erreichen; dass es einfach nicht geklappt hatte. Und irgendwann hatte er sich von der Vorstellung benebeln lassen, es wäre ihm doch geglückt. Das war ihm während der Arbeit passiert. Wollte er eine weitere Katastrophe vermeiden, musste er darüber schweigen. Sonst wäre alles herausgekommen. Er hätte beichten müssen, dass er dieser Frau aufgelauert und sie angegriffen hatte, um sie zu schänden und zu töten; dass er sich an dieser Vision ergötzt und dass mit einem Mal der Bremsklotz für ihn aufgehört hatte zu existieren. So war ihm sein beharrliches Schweigen schließlich zum Verhängnis geworden. Er hatte sich auch um eine
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