Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
Vom Netzwerk:
hatte unruhig geschlafen. Wieder spürte er diese Schmerzen und Verspannungen im Nackenbereich, in den Schultern, im Rücken. Er verdiente seinen Lohn nach wie vor bei Mannesmann, jetzt als Verputzer. Allerdings ließ ihn der Vorarbeiter nur die Dreckarbeit machen, er musste schwere Zementsäcke schleppen oder beim Gerüstbau mit anpacken. Er war ein schmächtiger Bursche, das kraftraubende Heben und Tragen war er nicht gewohnt.
    Bevor er irgendwann spät in der Nacht eingeschlafen war, hatte er lange überlegt, ob er es wagen sollte. Die Beerdigung des Mädchens in Walsum war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Soll ich da wirklich hingehen?
    Am Tag zuvor hatte das Dilemma begonnen, als es in der Mittagspause unter seinen Arbeitskollegen zu einer lebhaften Diskussion gekommen war. Auslöser war ein Artikel in der Bild- Zeitung über das ermordete Mädchen in Walsum gewesen, in dem auch auf die Beerdigung am nächsten Tag hingewiesen worden war. Seine Kollegen, größtenteils selbst Familienväter, hatten sich empört und zahlreiche Vorschläge gemacht, was mit „dem Schwein“ passieren sollte, wenn man ihn zu fassen bekäme: „In einem dunklen Loch verrecken lassen!“ „Am nächsten Baum aufknüpfen!“ „Rübe ab!“ Das war wenig schmeichelhaft gewesen, anfangs hatte er es sogar mit der Angst zu tun bekommen. Aber schnell hatte er auch erkannt, dass ihm tatsächlich keine ernsthafte Gefahr drohte. Mehr noch: Er hätte ihnen so gerne entgegengeschleudert, dass er es war, über den sie sich das Maul zerrissen.
    Aber da war zudem dieser merkwürdige Impuls, den er sich nicht recht erklären konnte, weil dessen Realisierung das Ende von allem bedeuten würde, der ihn auch jetzt noch schwer beschäftigte. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an. Das Unaussprechliche, das Undenkbare ließ ihn jetzt nicht mehr los. Denn es war gekoppelt an eine Emotion, die er aus seinem Bewusstsein vollkommen hatte vertreiben wollen, die sich aber immer wieder zurückgekämpft hatte: Er fühlte sich schuldig, und er wollte sich bekennen.
    Es war eine unendliche Traurigkeit, die von ihm Besitz ergreifen wollte, die ihm den quälenden Eindruck vermittelte, als sei er es, dem die Luft wegbliebe, dem zwei große Pranken um den Hals geschlungen würden. Und er spürte, dass er diesem Druck irgendwann nicht mehr würde standhalten können, dass er diese seelischen Ketten würde sprengen müssen. Aber es gelang ihm nach wie vor, seine unbeholfenen Entschuldigungen herunterzuwürgen, obwohl ihm ganz anders zumute war. Denn er wollte andererseits unbedingt existieren, sich selbst erhalten. Und so war es ihm stets geglückt, diesen Erlösung verheißenden, bedrohlichen Reiz auszuschalten – genauso wie seinen Fernseher oder das Radio, wenn er davon genug hatte.
    Nur heute wollte ihm dies nicht gelingen. Seitdem er von einem Kollegen, der mit der Familie Reimer flüchtig bekannt war, erfahren hatte, dass die Beerdigung am Freitagmorgen stattfinden würde, war er unschlüssig. Er konnte sich einfach nicht entscheiden. Er war sich nicht sicher, ob er all dem gewachsen sein würde. Er hatte Angst.
    Horst Kuhnert war der Erste, der im Besprechungsraum der Mordkommission erschien. Es war kurz vor sieben, und die Müdigkeit machte ihm zu schaffen. Er gähnte ausgiebig, setzte sich dann an seinen angestammten Platz, am oberen Kopfende der Tischreihe links. Auf dem Messingschild, das unmittelbar vor ihm auf dem Tisch klebte, war schon seit vielen Jahren zu lesen: „Achtung! Hier sitzt der Chef!“ Seine Kollegen waren auf die Idee gekommen, und er hatte es sich gefallen lassen. Er wollte kein Spielverderber sein. Aber seitdem hatte es auch niemand gewagt, sich dorthin zu setzen. Kuhnert wurde von seinen Kollegen respektiert – als Vorgesetzter und Mensch.
    Noch in der Nacht hatte er seine Kollegen angerufen und eine außerordentliche Besprechung angekündigt, eine Stunde früher als üblich. Vor Beginn der Beerdigung war noch einiges zu erledigen, wollten sie tatsächlich erfolgreich sein. Während die Angehörigen der Kommission nach und nach eintrudelten, studierte Kuhnert seine Unterlagen. Er hatte noch in der Nacht ein Fahndungskonzept erstellt, das er in der Runde vortragen wollte.
    »Wir sind vollzählig.« Kuhnert nahm die Meldung seines Stellvertreters wohlwollend zur Kenntnis. Mit einem Mal war es still geworden, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand wusste, was Kuhnert dazu bewogen hatte, die ohnehin

Weitere Kostenlose Bücher