Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
Vom Netzwerk:
Minuten später bestieg er an der Haltestelle »Mühlenkamp« einen Straßenbahnzug der Linie 9 und löste eine Fahrkarte bis »Walsum-Vierlinden«. Von dort aus war es noch etwa ein halber Kilometer bis zum Friedhof.
    Die beiden Männer unterhielten sich angeregt. Sie spazierten die Königstraße in Richtung Rhein. Das Gezwitscher der Vögel, die in den Lindenbäumen hockten, überhörten sie genauso wie die Bergungsgeräusche, die der Südostwind vom Nordhafen hinübertrug. Wenig später bogen sie nach rechts ab in die Querstraße. Plötzlich verharrten sie für einen Moment. Einer der Männer griff mit seiner rechten Hand nach etwas, das in der linken Innentasche seines Mantels steckte, ohne es herauszuziehen. Er neigte den Kopf etwas nach vorne und zog die Schultern hoch. Jetzt begann er etwas zu flüstern.
    »Gruga 70/01 für Gruga 70/21.«
    »Gruga 70/21. Kommen Sie.«
    »Gruga 70/01. Haben Position eingenommen.«
    »Gruga 70/21. Verstanden.«
    Im Vorbeifahren konnte er die Tageszeit an einem Kirchturm ablesen: 9.55 Uhr. Noch fünf Minuten. Jetzt war klar, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Ihm war immer noch mulmig zumute. Da kam etwas auf ihn zu, von dem er nicht wusste, wie es für ihn ausgehen würde. Zwei Dinge hatte er sich unbedingt vorgenommen: den Sarg betrachten und den Eltern des Mädchens die Hand reichen. Er wollte einfach an das Grab herantreten, in die Gruft hinunterschauen, sich umdrehen, die Hände der Mutter ergreifen und sagen: »Tut mir echt Leid!« Er legte den Kopf in den Nacken, starrte an die Decke und stellte sich vor, wie es wohl sein würde.
    An der Beerdigung nahmen mehr als tausend Menschen teil. Viele Mütter mit Kinderwagen, die Schulkameraden und Lehrer des Mädchens und die Leiter der örtlichen Behörden geleiteten den weißen Sarg. Noch an der offenen Gruft empörte sich der Rektor der Lindenschule: »Für derartige Verbrechen fordern wir die Todesstrafe!« Hunderte antworteten spontan mit »Ja«.
    All dies wurde intensiv beobachtet. Acht Kriminalbeamte hatten sich unauffällig unter die Anwesenden gemischt. Alles, was sie sahen und hörten, konnte von Bedeutung sein. Mancher Teilnehmer der Beerdigung musste sich Fragen gefallen lassen: »Warum sind Sie hierher gekommen?« »Wie heißen Sie?« »Wo wohnen Sie?«. Die Personalien wurden so unauffällig wie möglich per Funk an die »Führungsstelle« weitergegeben und dort mit dem »Bundesfahndungsbuch« abgeglichen. Jeder Mann, der keinen plausiblen Grund für seine Anwesenheit nennen konnte, wurde auch fotografiert.
    »Walsum-Rathaus«, tönte es aus dem Lautsprecher. Er zählte nach. Noch vier Stationen. Dann würde er die Bahn verlassen müssen. Dann würde es kein Zurück mehr geben. Am liebsten wäre er schon jetzt ausgestiegen. Aber er blieb sitzen. Die Türen schlossen sich wieder. Er kam sich vor wie damals im Knast. Da hatte er auch rausgewollt, aber nicht raus gekonnt. Kacke! Was mach’ ich nur! Mitten in seine Gedanken hinein wurde der nächste Halt angekündigt: »Alt-Walsum. Friedhof.«
    Horst Kuhnert stand etwas abseits in der Nähe eines Toilettenhäuschens, ein Handsprechfunkgerät in der linken Tasche seines Jacketts. Er wollte nicht auffallen und einen möglichst präzisen Überblick behalten. Wenige Meter entfernt hielten sich zwei Kollegen bereit, die auf seine Anweisung hin Verdächtige überprüfen sollten. Außerhalb des Friedhofsgeländes notierten Kripobeamte fleißig Autokennzeichen. Vielleicht würde der Gesuchte mit dem Wagen kommen.
    Es war gegen 10.30 Uhr, als Kuhnert ein Mann auffiel. Der gewiefte Kriminalist beobachtete den Burschen zunächst, sein Alter schätzte er auf 25 bis 30. Der Verdächtige drückte sich am Südeingang des Friedhofs herum, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Er ging auf und ab und erweckte den Eindruck, als wisse er nicht, ob er das Gelände nun betreten oder verlassen sollte. Der junge Mann wirkte unschlüssig. Und er war nicht so gekleidet, wie man es hätte erwarten dürfen.
    Kuhnert gab das verabredete Zeichen, er drückte dreimal die Ruftaste seines Funkgerätes. Zwei Kollegen kamen aus dem Toilettenhaus. Kuhnert zeigte in Richtung Friedhofseingang: »Der komische Vogel da vorn. Los!«
    Die Beamten machten sich auf den Weg, jeder für sich. Sie wollten den Verdächtigen nicht verschrecken, liefen deshalb einige Umwege. Aber sie ließen ihn nicht aus den Augen. Unterdessen beorderte Kuhnert einen Funkwagen zum Südeingang: »Bereithalten.

Weitere Kostenlose Bücher