Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Erfahrungsgrundsatz. Insbesondere Mördern wird dieses Verhaltensmuster zugeschrieben.
Namhafte Kriminologen bemühten sich frühzeitig um Erklärungen für diese im Schrifttum nicht unumstrittenen, aber zahlreich belegten Verhaltenssyndrome. Der Universitätsprofessor Hans Groß (†1915), zu Lebzeiten weltweit führende Autorität in der Kriminalistik, zeigte sich in seinem Handbuch der Kriminalistik noch skeptisch: »Ob da Aberglaube der Verbrecher oder Aberglaube der Kriminalisten mitspielen, ob es Zufall oder Wahrheit ist, dass es den Täter (namentlich den Mörder) wie mit Teufelsgewalt an den Ort der Tat zurückzieht und ihn veranlasst, so oft als möglich wieder dahin zurückzukommen und sich den Schauplatz des Verbrechens anzuschauen, vermag ich nicht sicher zu beurteilen.«
Erich Liebermann von Sonnenberg, in den dreißiger Jahren Chef des preußischen Landeskriminalpolizeiamtes und stellvertretender Leiter der Berliner Kripo, bezweifelte die Existenz dieser »absonderlichen Verhaltensweise« nicht und lieferte in seinem 1934 erschienenen Werk Kriminalfälle eine durchaus plausible Begründung: »Gott und die Natur haben es so gefügt, daß sich mit jeder Übeltat der Täter selbst eine Wunde schlägt. Wer schon mal ein Unrecht tief bereut hat, der weiß, daß es ihn dann in die Nähe des Verletzten treibt, um wieder gutzumachen. Und da, wo nichts mehr gutzumachen ist, weil keine Reue Tote wiedererweckt, und wo der Täter sich dem Erschlagenen nicht mehr nähern kann, da treibt es ihn zurück an die Stelle, wo er ihn letztmals lebend gesehen hat, an den Schauplatz der Tat. Mit dieser Stätte ist sein Schicksal verknüpft, sie steht immer wieder vor seinen Gedanken. Im Wachen und Träumen lebt ihr Bild vor ihm auf, wie mit tausend Fäden zieht ihn die Mordstätte an.«
Auch der renommierte Bonner Strafrechtsprofessor Hans von Hentig glaubte an die »auf unbekannten Instinkten beruhende Kreisbewegung des Mörders«. In Zur Psychologie der Einzeldelikte: Der Mord (1951) philosophierte er: »Die Erfahrung lehrt, daß neben dem Impuls zur Flucht auch Kräfte der Anziehung wirksam sind. Mächtige Triebe sind es, die den Täter der Vorsicht abspenstig machen.« Dann belegte er seine Hypothese mit zahlreichen Kasuistiken wie dieser: »Robert K. (der Mörder) auch in der Tatstraße wohnhaft, befand sich nachmittags unter den Neugierigen, die nach Entdeckung des Mordes unentwegt auf der Straße standen und immer von neuem ihre Beobachtungen und Meinungen austauschten.«
Derartige Fälle sind auch in der modernen Kriminalistik und Kriminologie vielfach ausführlich beschrieben worden. Gleichwohl werden derlei Rückkehrgelüste überwiegend als Ausnahmen von der Regel gesehen, und das Motivspektrum ist wesentlich vielgesichtiger als ursprünglich angenommen.
Insbesondere Sexualmörder neigen dazu, an den Ort der Schändung zurückzukehren. Der Tatort selbst, aber auch seine nähere Umgebung inspiriert, lässt die Erinnerungen aufflammen, gibt der Phantasie neue Nahrung. Der Adrenalin-Junkie braucht keine Droge, er berauscht sich an den Bildern, die ihm durch den Kopf schießen: Den Opfern wird wieder aufgelauert oder sie werden angesprochen, dann überwältigt, missbraucht, getötet. Die imaginäre Umsetzung des Erlebten gelingt umso besser, je authentischer das Setting ist.
Gelegentlich mischen die Täter sich auch unter die Gaffer, beobachten den Abtransport der Leiche, beäugen gespannt die polizeilichen Ermittlungen, hören, welche Vermutungen die Leute anstellen. Dieses mitunter auch von Neugier beeinflusste Verhalten fußt aber in erster Linie auf dem unstillbaren Verlangen, weiterhin Kontrolle auszuüben, die Häscher sehenden Auges und innerlich triumphierend zu düpieren. Auch Heinrich Pommerenke, nach zahlreichen in den sechziger Jahren verübten Sexualmorden noch heute in Haft, suchte die Nähe zur Polizei. Seine Begründung: »Ich wollte die Macht spüren, fühlte mich unbesiegbar.«
Gelegentlich geben aber auch ganz pragmatische Überlegungen den Ausschlag. Nämlich dann, wenn der Leichnam oder am Tatort vergessene oder in Eile vergrabene Beweismittel nachträglich gefahrlos beiseite geschafft werden sollen. Es müssen also nicht immer sexuelle oder emotionale Bedürfnisse sein, die ein solches Verhalten initiieren.
Während über die Motivation der Täter für derartiges Verhalten anfangs munter gestritten wurde, blieben die sich hieraus ergebenden kriminalistischen Möglichkeiten unbestritten.
Weitere Kostenlose Bücher